18.10.2009

Die Angst, zu kurz zu kommen

Predigt zum 29. Sonntag im Jahreskreis (Mk 10,35-45)

In einem Tagesgebet in unserem Messbuch, das für mich zu den aussagekräftigsten gehört, heißt es:
„Gott. Wir fürchten, wenn wir uns auf dich einlassen, wird unser Leben noch schwerer; wenn wir uns für deine Sache mühn, kommen wir selber zu kurz.“ Wir könnten noch einen zweiten Vers hinzufügen:
„Gott. Wir fürchten, wenn wir für andere etwas übrig haben, wird das nur ausgenutzt, wenn wir von uns absehen und für andere da sind, verpassen wir das eigene Vorwärtskommen.“
Diese Angst gibt es nicht erst heute. Zwei Musterexemplare stehen uns im heutigen Evangelium vor Augen. Die möchten groß rauskommen, vorne dran sein, etwas im Leben erreichen, oben auf sein. Doch die Antwort Jesu, die er am Ende des Gesprächs seinen Jüngern ans Herz legt lautet anders: „Wer bei euch groß sein will, soll der Diener aller sein!“ Ist mit dieser Lebensdevise heute noch ein Blumentopf zu gewinnen?

Der Schriftsteller Rabindranath Tagore schrieb einmal in einem Gedicht:
„Ich schlief und träumte, dass das Leben nur Freude sei.
Ich erwachte und sah, dass das Leben nur Dienst sei.
Ich diente und sah, dass der Dienst Freude ist.“

Aus seiner Lebenserfahrung heraus macht Tagore die Entdeckung: Dienst und Lebensfreude schließen sich nicht aus. Anderen zu Diensten sein hat nicht zur Konsequenz, dass es zu meinen eigenen Lasten geht. Ganz im Gegenteil, meint Tagore: Wer glaubt, Freude im Leben, ein sinnerfülltes Leben wären möglich, ohne an das Wohl anderer zu denken, ohne Rücksichtnahme und Hilfsbereitschaft, der verschließt die Augen vor der Wirklichkeit, der schläft und träumt. Und wer den Eindruck hat, für andere Menschen da zu sein heißt, das eigene Glück und Leben zu versäumen, der hat eine entscheidende Erfahrung nicht gemacht: Ich komme nicht zu kurz, wenn ich für andere etwas übrig habe. Es steigert die Qualität meines Lebens, wenn ich aus freien Stücken ohne Berechnung anderen zu Diensten bin.

Wer dies einmal verstanden und verinnerlicht hat, der weiß, dass er seine Talente und Begabungen zur eigenen Freude gebrauchen und zum eigenen Wohl einsetzen darf; der weiß aber auch darum, dass er nur glücklich und zufrieden sein kann, wenn er zum Gelingen des Lebens in seiner Umgebung seinen Beitrag leistet. Das heutige Evangelium stellt an jeden von uns die Frage: Wo liegen deine Talente und Begabungen? Und was siehst du als deine persönliche Lebensaufgabe? Und ganz klar ist: Wem viel im Leben mitgegeben wurde, von dem wird viel erwartet.
Wer in seinem Leben bewusst diesen „Dienstweg“ geht, kann vielleicht nachempfinden, was eine krebskranke Studentin kurz vor ihrem Tod aufgeschrieben hat: „Was zum Schluss zählt, ist allein die Menschlichkeit und die Liebe. Strukturen, Hierarchien, Machtstreben, Titel und Eitelkeiten sind letztlich unwichtig. Und wenn du in deinem Leben nur einem Menschen eine Sekunde Freude bereitet hast, dann bist du tiefer im Leben und mehr im Leben gewesen als alle, die nach oben streben und etwas sein wollen.“

„Ich diente und sah, dass das Leben Freude ist“, schreibt Rabindranath Tagore. Ich möchte mit einem zweiten Gebet aus unserem Messbuch beten:
Gott, unser Vater. Bewahre uns vor der Gier nach Reichtum und Macht. Gib, dass wir alles, was uns anvertraut ist, recht gebrauchen. Lehre uns, dass die Liebe unser größter Reichtum ist - die Liebe, die du uns schenkst und die wir einander erweisen.

Pfarrer Stefan Mai


 
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