31.08.2003

Berührungsangst oder Integration? Wie modern die Diskussion Jesu über die alten Reinheitsgebote ist!

Katholische Morgenfeier am 31.August 2003 zum 22.Sonntag im Jahreskreis (Mk 7,1-8.14-15.21-23)

Predigt

Rein und unrein im Alltag

Die saubere Wäsche liegt gebügelt und ordentlich gefaltet im Schrank oder hängt schön säuberlich auf einem Bügel im Umkleidezimmer. Die gebrauchte oder gar dreckige Wäsche gehört in den Waschsack, am besten gleich in die Waschmaschine oder in die Reinigung.
„Mensch, das Hemd kannst du nicht mehr anlassen. Schau doch mal den Schwitzfleck unter deinem Arm an.“ Und alle Ausreden mit der Hitze nützen nichts. Das Hemd muss gewechselt werden. Sonst gibt es keine Ruhe im Haus.
Noch nie ist so viel gewaschen und geputzt worden wie in unserer Zeit. Noch nie war die Palette der Reinigungsmittel so groß wie in unseren Tagen. Noch nie ist bei uns so oft geduscht, noch nie sind so oft Kleider gewechselt worden wie heute. Wie penibel werden Trinkflasche und Spielzeug der kleinen Kinder desinfiziert. Wie stark wird darauf geachtet, dass Kinder nicht dreckig werden. Erlaubt ist in einer Sonderstunde nur die Matschbank im Kindergarten. Noch nie wurde zu Kindern so oft gesagt: „Wasch deine Hände vor dem Essen! So setzt du dich nicht an den Tisch!“ Eine ungeheure Sehnsucht nach Sauberkeit und Reinheit durchzieht unsere Gesellschaft.

Jesus – bei den Unreinen

Jesus würde nicht in den Trend der heutigen Zeit passen. Von ihm und seinen Leuten erzählt man:

Sprecherin:

In jener Zeit hielten sich die Pharisäer und einige Schriftgelehrte, die aus Jerusalem gekommen waren bei Jesus auf. Sie sahen, dass einige seiner Jünger ihr Brot mit unreinen, das heißt mit ungewaschenen Händen aßen. Die Pharisäer essen nämlich wie alle Juden nur, wenn sie vorher mit einer Handvoll Wasser die Hände gewaschen haben, wie es die Überlieferung der Alten vorschreibt. Auch wenn sie vom Markt kommen, essen sie nicht, ohne sich vorher zu waschen. Noch viele andere überlieferte Schriften halten sie ein wie das Abspülen von Bechern, Krügen und Kesseln. Die Pharisäer und die Schriftgelehrten fragten ihn also: Warum halten sich deine Jünger nicht an die Überlieferung der Alten, sondern essen ihr Brot mit unreinen Händen?(Mk 7,1-5)

Anderes Gruppenverhalten


Warum halten sich deine Jünger nicht an die Überlieferungen der Alten? wird Jesus gefragt. Warum legen deine Freunde ein anderes Verhalten an den Tag und lassen die Reinheitsgebote Reinheitsgebote sein? Warum seid ihr so anders als wir? Diesen Fragen müssen sich Jesus und die Jünger stellen. Eine ungeheuere Spannung liegt in der Luft.

- Musik: Reinhard Schimmelpfeng, aus Laudes, part 2 für afrikanischen Schwirrbogen –

Es war insbesondere die Gruppe der Pharisäer, die mit dem Verhalten der Jesusclique ihre Schwierigkeiten hatte. Denn die Pharisäer wollten die Reinheitsvorschriften der Priester im Tempel auch im Alltag beachten: Sie wollten dadurch den Alltag heiligen und zeigen, dass Gott nicht nur im Tempel wohnt, sondern auch das alltägliche Leben bestimmt. Das Volk Israel sollte ein reines, priesterliches Volk sein, das sich im Alltag deutlich sichtbar von allen abgrenzt, die nicht zum Gott Israels gehören, die keine Juden sind – vor allem von den Römern, die ihr Land beherrschen.
Mit denen möchte man nicht in Berührung kommen. Und wenn es sich doch nicht vermeiden lässt, wie etwa auf dem Markt und bei den Behörden, dann muss man das Fremde gründlich abstreifen, symbolisch von den Händen waschen. Das sind doch dreckige Schweine. Wir die Saubermänner.
Durch dieses Abgrenzungsverhalten geben sich die Pharisäer ein Selbstwertgefühl. Sie sind zwar die politisch Unterdrückten, aber die strikte Einhaltung ihrer religiösen Bräuche gibt ihnen das Gefühl der Überlegenheit. Und das wird ganz praktisch: Mit einem Römer setzt man sich nicht an einen Tisch. Einem unreinen Römer gibt man seine Tochter nicht zur Frau. Mit einem Römer lässt man sich nicht ein.

- Musik: Effata, aus Leuchtfeuer P 4 Meditation (2.23) -

Und heute?


Wir rümpfen gerne die Nase über die Pharisäer, unterstellen ihnen ein Stück Weltfremdheit und Arroganz. Aber wenn wir ehrlich sind, sind wir von einem pharisäischen Verhalten gar nicht so weit weg. Nachweise gibt es für diese These genug. Die Vegetarier rümpfen die Nase, wenn die verrohten „Fleischfresser“ sich eine Haxe schmecken lassen. Unmöglich! Und umgekehrt spotten die Liebhaber für deftige Speisen über die „Müslifresser“ und unterstellen, dass sie keinen Saft und keine Kraft in den Knochen haben.
Die Hautevolee, die am Abend in feinen Kleidern ins Theater geht, bombastische Opern genießt oder bei modernen Theaterstücken nachdenklich wird, schaut ein wenig despektierlich auf den kleinen Mann herab, der in Jogginghose und mit der Bierflasche in der Hand die alten Schnulzen und Heimatlieder beim Musikantenstadel vor dem Fernseher mitsingt.
Nicht viel anders ist es mit den Parteien. Die einen sagen: Ihr haltet es ja nur mit der Wirtschaft und den Großkopferten und vergesst den kleinen Mann. In den Augen der anderen sind solche Behauptungen typisch für Sozialromantiker, die nichts auf die Beine stellen und deswegen nicht mehr in unsere Zeit passen.
Das gleiche in unserer Kirche. Die eher konservativ Geprägten wittern in allen Neuerungen Verrat an der christlichen Substanz und machen die Öffnung der Kirche auf die moderne Gesellschaft hin für den stetigen Bedeutungsverlust der Kirche verantwortlich. Die mehr progressiven Kräfte und Gruppierungen schimpfen über die Bremser und Betonköpfe und behaupten, dass deswegen die Werte und Anliegen der Kirche beim modernen Menschen nicht mehr ankommen.
Das eigene Denkmuster, die eigene Verhaltensweise wird absolut gesetzt und dadurch die andere Seite disqualifiziert. Schnell gerät man in die Gefahr einer moralischen Überheblichkeit: Ich bin der Saubermann, der andere ist das Schwein; ich bin der Kultivierte, der andere ist der Kulturbanause; ich bin der Verantwortungsbewusste, der andere nimmt alles zu leicht.
Auch Jesus und seine Jünger wurden in diese Außenseiterrolle geschoben: Sie sind nicht fromm genug, sind unanständig und Verräter der Tradition.

Jesus erhebt Widerspruch

Gegen diesen Vorwurf erhebt Jesus Widerspruch

- Musik: Reinhard Schimmelpfeng, aus Laudes, part 2 -

Sprecherin:
Jesus antwortete ihnen: Der Prophet Jesaja hatte recht mit dem, was er über euch Heuchler sagte: Dieses Volk ehrt mich mit den Lippen, sein Herz aber ist weit weg von mir. Es ist sinnlos, wie sie mich verehren; was sie lehren, sind Satzungen von Menschen. Ihr gebt Gottes Gebot preis und haltet euch an die Überlieferung der Menschen.
Dann rief er die Leute wieder zu sich und sagte: Hört mir alle zu und begreift, was ich sage: Nichts was von außen in den Menschen hineinkommt, kann ihn unrein machen, sondern was aus dem Menschen herauskommt, das macht ihn unrein ... Denn von innen, aus dem Herzen der Menschen, kommen die bösen Gedanken, Unzucht, Diebstahl, Mord, Ehebruch, Habgier, Bosheit, Hinterlist, Ausschweifung, Neid, Verleumdung, Hochmut und Unvernunft. All dieses Böse kommt von innen und macht den Menschen unrein (Mk 7,6-8.14-15.21-23).

Jesus durchschaut die Reinheitsmasche


Jesus durchschaut die Reinheitsmasche. Er merkt genau: Da wird von Reinheit gesprochen und den anderen Traditionsbruch vorgeworfen; da wird auf die Einhaltung der Reinheitsgebote rekurriert – und dabei werden nur Menschen ausgegrenzt. Er weiß, dass es bei der ganzen Reinheitsdebatte eigentlich nur um zwei Dinge geht. Auf der einen Seite um die Angst die eigene Standfestigkeit zu verlieren, und auf der anderen Seite um den Versuch sich selbst ein starkes Rückgrat zu geben. Auf der einen Seite zu zeigen: Ich bin wer! Und auf der anderen Seite die Angst: Der andere schluckt mich.
Jesus spürt: Dahinter steht ein gefährliches Verständnis von Integration: Entweder der andere wird so wie ich, gleicht sich in allem mir an, oder ich will mit ihm nichts zu tun haben und er bleibt draußen. All dieses eigentlich unmenschliche Verhalten wird schön verbrämt mit Rechtgläubigkeit.
Jesus dreht den Spieß um und sagt: Nicht die ungewaschenen Hände machen unrein, nicht die fremde Kultur der anderen, nicht ihre Gebräuche und eigenen Fest- und Essgewohnheiten. Unrein macht vielmehr, wie ihr abfällig über die anderen denkt und über sie sprecht: „Nichts, was von außen in den Menschen hineinkommt, kann ihn unrein machen, sondern was aus dem Menschen herauskommt, das macht ihn unrein“ (Mk 7,15).

Herausforderung bis heute

Liebe Leserinnen und Leser! Die Argumentation Jesu bleibt eine Herausforderung bis heute. Sie durchleuchtet typische gesellschaftliche Muster und fragt mich: Kannst du nur dann gut leben, wenn du dich als der Bessere fühlst und im Gegenzug andere abqualifizierst? Oder kannst du zu dir selber und deinen Lebensprinzipien stehen – und gleichzeitig die der anderen gelten lassen? Was ist dir wichtiger: Integration oder Disqualifikation? Bunte Vielfalt und viele Versuche mit dem Leben umzugehen – oder strenge Einheitsmuster? Möglicher Irrweg – oder klare Linie, die eindeutig gezogen wird. Bist du stark genug zu deinem Weg zu stehen – oder lässt du dich gleich verunsichern, wenn andere anderes denken, anders leben und anders handeln?
Die scheinbar so weltferne Debatte Jesu mit den Pharisäern über die Reinheitsgebote ist in meinen Augen ungeheuer aktuell für unsere Zeit – angesichts immer stärker werdender Polarisierungen und gegenseitiger Verurteilungen. Die Haltung der Pharisäer ist sicher klarer und übersichtlicher, scheinbar einfacher und Erfolg versprechender, aber sie polarisiert und baut ein Freund-Feind-Schema auf. Die Haltung Jesu ist verschwommener und nicht so einfach nach einem Muster zu handhaben. Sie braucht innere Stärke und eine gewisse Großzügigkeit anderen gegenüber. Aber sie wirbt für das Experiment eines neuen Umgangsstils und garantiert auf Dauer ein faires menschliches Miteinander.
Es geht um eine neue Sichtweise, um genaues Hinhören und eindeutiges Sprechen, worum die Band Effata aus Baunach in ihrem Lied „Herr, öffne uns die Augen ...“ bittet.

- Musik: Effata, aus Leuchtfeuer, Herr, öffne uns die Augen -

Fürbitten
Herr, unser Gott, wie schwer ist es doch, einen klaren eigenen Standpunkt zu vertreten – und trotzdem offen für die anderen zu sein. Als Menschen ringen wir darum und bleiben trotzdem oft weit hinter der Einstellung Jesu zurück.

Sprecherin:
- Ich wohne in einem Wohngebiet mit vielen Aussiedlern. Es fällt mir schwer, wenn ich auf der Straße nur Russisch höre. Es fällt mir schwer, wenn ich an den Wohnblocks nur noch fremde Namen lese. Kaum mehr eine einheimische Familie in diesen Wohngettos zu finden. Eine nach der anderen ist ausgezogen. Es fällt mir schwer, dass es in unserem Viertel nur noch ein russisches Lebensmittelgeschäft gibt. Ich kann das gebrochene Deutsch schon nicht mehr hören. Kein Wunder, dass unser Marktplatz spöttisch „roter Platz“ genannt wird. Nie hätte ich gedacht, dass unser Stadtteil einmal diese Entwicklung nimmt. Wenn ich das alles vorher gewusst hätte!

Sprecher:
- Ich bin ein Türke in Deutschland. Seit Jahrzehnten sind wir schon in dieser Stadt. Aber unsere Lobby ist nicht groß. Wir haben kaum Vertreter in der öffentlichen Politik. Als Arbeiter sind wir recht, aber als Menschen? Ich weiß: Wir tun uns schwer mit dem Deutschen und oft auch mit den Deutschen. Am liebsten sind wir unter uns und möchten rein türkische Wohngebiete: eigene Kindergärten, eigene Schulklassen, eigene muslimische Religionslehrer an öffentlichen Schulen. Und welches Fest ist es für uns, wenn unser türkischer Fußballverein in die Kreisliga aufsteigt. Dieses Siegergefühl: Den Deutschen haben wir’s aber gezeigt!

Sprecher:
- Ich bin ein standfester Katholik. Ich weiß, was man zu glauben hat. Das gibt mir Rückgrat und Sicherheit. Es regt mich auf, wenn immer über Papst und Kirche geschimpft wird. Einer muss doch sagen, wo’s lang geht. Ich hasse es, wenn Kirche sich überall angleichen will, sich für alles öffnet und jeden Bekennermut vermissen lässt. Mich regen die Nestbeschmutzer auf, die alles besser wissen, an allem herumnörgeln und kritisieren. Wer dazugehören will, muss zum eigenen Verein stehen, sonst hat er in der Kirche nichts zu suchen!

Sprecherin:
- Mein Platz ist nicht mehr in der Kirche. Da ist es mir zu eng. Ich kann die Verlogenheit der Frommen nicht mehr ausstehen. Die merken doch gar nicht, wie die Zeit an ihnen vorübergeht. Mit ihren alten Riten und ihrer ewig-gestrigen Sprache. Die haben doch keine Ahnung davon, was der heutige Mensch will und braucht. Nein, zu dieser frommen Sorte will ich nicht gehören. Da gehe ich lieber auf Abstand. Glauben kann ich auch ohne Kirche. Mein Leben hat gezeigt, ich komme auch so ganz gut zurecht.

- Musik: Effata, aus Leuchtfeuer, Kyrie eleison –

Gebet

Gott, du kennst auch mich mit meinen Vorurteilen, mit meinen Ängsten und Voreingenommenheiten. Du kennst mich , wie schwer es mir oft fällt den anderen einfach anzunehmen oder sein zu lassen, ohne ihn zum inneren Feind zu erklären oder links liegen zu lassen. Du weißt, Fremdes oder Fremde machen eher Angst als neugierig. Wer anders ist als ich, in dem sehe ich eher eine Anfrage oder Gefahr als eine Bereicherung und Ergänzung. Du weißt um die Versuchung, sich immer nur unter seinesgleichen wohl zu fühlen, sich immer nur zu den gleichen zu setzen, sich immer nur mit den Bekannten zu unterhalten. Du weißt, wie schwer es uns oft fällt auf unbekannte Menschen zuzugehen, mit Interesse ihnen zuzuhören, über fremde Kulturen und Umgangsformen nachzudenken. Dein Sohn Jesus von Nazaret begegnet uns als ein Mensch ohne Berührungsangst und Vorbehalte. Er stellt eingefahrene Denkmuster auf den Kopf und zwingt zum Denken von einer anderen Seite her. Und so wundert es nicht, dass er dich in seinem Gebet, das er uns ans Herz gelegt hat, nicht meinen, sondern unseren Vater nennt. Du bist ein Gott aller Menschen, so unterschiedlich sie sein mögen und lässt dich von keinem vereinnahmen. Lass uns heute das Gebet Jesu ehrlichen Herzens in diesem Geist Jesu sprechen :

Vaterunser

Vater unser im Himmel, geheiligt werde die Name. Dein Reich komme. Dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auf Erden. Unser tägliches Brot gib uns heute. Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern. Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen. Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen.
„Mach dich auf den Weg, nimm von Jesus mit ...“ zum Schluss noch einmal die Band Effata.

- Musik: Effata, Aus Leuchtfeuer: Frieden geht nicht immer auf -

Segen

Freundliche Reden machen es nicht, ich wünsche dir Worte, die wahr sind und das, was du sagst, wirklich meinen.
Große Ideen machen es nicht, ich wünsche dir das Feuer des Geistes, gerade und klare Gedanken.
Friedvolle Gesten machen es nicht, ich wünsche dir Hände, die heilen und stark sind das Leben zu schützen.
Glänzende Augen machen es nicht, ich wünsch dir den Blick des Vertrauens, der Mut macht Versöhnung zu wagen.
Fromme Gebete machen es nicht, ich wünsch dir lebendigen Glauben, dass Gott im Alltäglichen Mensch wird.
Dass der Gott aller Menschen uns die Gnade gewährt, in diesem Sinn ein Segen unter den Menschen zu sein, dazu segne uns der barmherzige Gott, der Vater, der Sohn und der Heilige Geist. Amen

Pfarrer Stefan Mai


 
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