Mein dorngekrönter Bruder steht mir bei

Karfreitag 2016

Der Reformator Ulrich von Hutten liegt am Sterben. Diese Situation greift der Dichter Conrad Ferdinand Meyer auf – und lässt den Sterbenden markante Worte sprechen:

Fernab die Welt. Im Reiche meines Blicks
An nackter Wand allein das Kruzifix.
An hellen Tagen liebt in Hof und Saal
Ich nicht das Bild des Schmerzes und der Qual;
Doch Qual und Schmerz ist auch ein irdisch Teil,
Das wußte Christ und schuf am Kreuz das Heil.
Je länger ich's betrachte, wird die Last
Mir abgenommen um die Hälfte fast,
Denn statt des einen leiden unser zwei:
Mein dorngekrönter Bruder steht mir bei.


Fernab der Welt
Leiden isoliert. Du kannst nicht wie gewohnt am normalen Leben anderer teilnehmen. Der Schmerz drängt dich in die Isolation, in die Einsamkeit, grenzt dich ab. Auch die anderen grenzen sich von dir ab. Eine Zeit lang kommen sie, nehmen Anteil, fragen, zeigen Mitgefühl. Dauert die Leidenssituation aber länger, werden diese Kontakte und freundlichen Gesten nach und nach weniger. Wenn Leid dich trifft, bist du bald „fernab der Welt“.

An nackter Wand allein das Kruzifix.
Der Karfreitag kennt keine Blumen, das Leiden kennt keinen Schmuck.
Die Wände des Leidensraumes sind nackt, wie die Wände so manchen Krankenzimmers. Mögen auch manchmal Bilder noch die Wände verzieren. Im Leiden ist das Schöne meist verschwunden, auch das Schöne, das man im Leben bisher erleben durfte. Wie schwer ist es oft für die Kranken: dieser Blick nach oben auf die nackte weiße Zimmerdecke.

Doch Qual und Schmerz ist auch ein irdisch Teil.
Schmerz und Qual ist wahrhaftig ein Teil des Lebens. Das Geborenwerden kennt den Schmerz, das Leben kennt existentiell den Karfreitag, das Sterben kennt den Schmerz. Schmerz ist Teil des menschlichen Lebens. Auch wenn viele von einem total schmerzfreien Leben träumen, früher oder später ist er Teil meines Lebens. Nicht nur Beglückendes und Berauschendes gehören zum Leben. „Qual und Schmerz ist auch ein irdisch Teil“, meint der Dichter. Und ist es nicht so: Diese Wirklichkeit anzunehmen, vor der wir so gerne die Augen verschließen, erschließt Leben in seiner Tiefe.

Das wußte Christ und schuf am Kreuz das Heil.
Wie schnell können solche Worte zur frommen Floskel werden, die Leidenden nicht helfen.
Was soll das heißen: Am Kreuz das Heil?
Für mich stellt das Kreuz einen Jesus dar, der an der Seite des Leidenden steht, der ein Kompagnon in der Passion ist. Und so sieht es auch der Dichter.

Je länger ich's betrachte, wird die Last
Mir abgenommen um die Hälfte fast,
Denn statt des einen leiden unser zwei:
Mein dorngekrönter Bruder steht mir bei.


Ich glaube: Das gibt es wirklich. Diesen Blick aufs Kreuz und das Gefühl: Da ist einer an meiner Seite, der nimmt mir das Kreuz nicht von der Schulter, das kann er auch gar nicht, aber ihn an der Seite wissen, macht mir Mut und gibt mir die Kraft, auch mein Kreuz zu tragen – denn „statt des einen leiden unser zwei“.
Ich darf oft Menschen erleben, die diesen Glauben als Trost erfahren: Er ist beim Kreuztragen an meiner Seite. Er kennt, was ich durchmache. Er versteht mein Schreien, mein „Warum-Rufen“, er versteht meine Tränen, er durchleidet die Dunkelheit meines Sterbens, „mein dorngekrönter Bruder steht mir bei“.


Pfarrer Stefan Mai

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