„Du bist mein 13. Kapitel des ersten Korintherbriefs“

Predigt zum 4. Sonntag im Jahreskreis C (1 Kor 13)

Einleitung

Gestern habe ich ein nachdenklich machendes Wort über die Liebe gelesen. Es lautet: Liebe – ein Wort, das durch seinen inflationären Gebrauch entwertet und beschädigt ist. Und dennoch „duftet“ es immer noch – wie auch eine beschädigte Rose duftet. Heute hören wir als Lesung einen Spitzentext über die Liebe, der seit 2000 Jahren seinen „Duft“ nicht verloren hat.

Predigt

In Frankfurt am Main gibt es, wie in vielen anderen Städten, zu Beginn jedes Jahres einen Neujahresempfang. Der Oberbürgermeister oder die Oberbürgermeisterin lädt dazu Leute ein, die im Leben der Stadt eine Rolle spielen. Es hat sich dabei eingebürgert, dass Schauspieler der Städtischen Bühnen Dichtertexte lesen – jedes Jahr zu einem bestimmten Thema. In den siebziger Jahren waren einmal Texte zum Thema „Liebe“ ausgewählt worden. Es handelte sich um Gedichte von Johann Wolfgang von Goethe und anderen klassischen Dichtern, dann kamen moderne Autoren zu Wort und zum Schluss der Text, den wir heute als Lesung gehört haben, das „Hohe Lied der Liebe“ aus dem 1. Korintherbrief.
Der große Saal mit Gästen hörte schweigend zu. Es herrschte tiefe Stille. Irgendwie spürten alle, dass dieses „Hohe Lied der Liebe“ ein ganz starker und großer Text ist. Und dann sagte jemand halblaut, aber doch so, dass es viele hören konnten: „Paulus schlägt sie alle!“
Paulus schlägt sie alle! Bis heute gehört dieser Text bei Hochzeiten zu den Lieblingstexten. Bis heute kommen bei diesen Worten Menschen ins Träumen – und oft direkt ins Weinen. Bis heute läuft dieser Text in seiner Schönheit hinunter wie Öl. Menschen werden von diesen Worten des Paulus emotional berührt – und dabei hebt dieser Text doch eigentlich darauf ab, dass Liebe viel mehr ist als wunderbare Gefühle und schöne Stimmungen.


Eigentlich ist dieser Text in seiner Emotionalität ganz nüchtern und einfach.
In einem ersten Anlauf zeigt er auf, wo Liebe nicht zu finden ist: Nicht in imponierenden Aktionen und Leistungen, nicht in tiefstem Wissen, selbst nicht in Aufopferung, Selbstvergessenheit und Glaubensstärke – wenn die Liebe als Antrieb fehlt.
Angesichts der großen liebe-leeren Leistungen, die nicht zählen, lesen sich die Eigenschaften der Liebe wie ein nüchternes Rezept. Es fehlt alles Exklusive und Spektakuläre:

„Die Liebe ist langmütig und freundlich.
Sie ereifert sich nicht,
sie prahlt nicht und bläht sich nicht auf.
Sie handelt nicht ungehörig,
sucht nicht ihren Vorteil,
lässt sich nicht zum Zorn reizen,
trägt das Böse nicht nach.
Die Liebe ist langmütig,
Sie freut sich nicht über das Unrecht,
sondern freut sich an der Wahrheit.


Dort, wo Liebe nicht nur ein Anflug von Gefühlen ist, wo sie im Alltag tauglich und lebendig ist, dort hat sie nach Paulus eine unverwüstliche Natur:

Sie erträgt alles,
glaubt und hofft alles,
hält allem stand.


Liebe Leser,
Helmut Graf James von Moltke, der im Zusammenhang mit dem Attentat auf Hitler im Juli 1944 verhaftet und in Plötzensee am 23. Januar 1945 hingerichtet wurde, schrieb in seinen letzten Tagen in einem Brief an seine Frau Freya: „Du bist mein 13. Kapitel des ersten Korintherbriefs. Ohne dieses Kapitel ist kein Mensch ein Mensch.“
Welch ein Segen, ja der größte Reichtum des Lebens, wenn Menschen solche Worte zueinander sagen können und im anderen die nüchterne Wahrheit des 13. Kapitels aus dem Korintherbrief erleben dürfen oder durften.

Fürbitten

Herr, unser Gott, die Fähigkeit zur Liebe ist ein großes Geschenk und zugleich eine große Aufgabe und hoher Anspruch an uns Menschen. Wir bitten dich:

Die Liebe ist langmütig.
Schenke uns Geduld mit den Mitmenschen und ihren Schwächen und hilf uns, ihnen Böses nicht nachzutragen.
Herr, erbarme dich.

Die Liebe ist gütig.
Schenke uns Feingefühl für Situationen, wo Menschen in besonderer Weise auf unsere Güte angewiesen sind.
Herr, erbarme dich.

Die Liebe sucht nicht ihren Vorteil.
Bewahre uns vor aller Berechnung in der Liebe und vor der Verweigerung von Liebe, wenn wir durch sie keinen Nutzen haben.
Herr, erbarme dich.

Die Liebe freut sich nicht über Unrecht.
Nimm alle Schadenfreude aus unseren Herzen und bewahre uns davor, Menschen Böses zu gönnen
Herr, erbarme dich.

Die Liebe hört niemals auf.
Schenke uns Kraft und Ausdauer, wenn es Missverständnisse und Krisen in Beziehungen zu bewältigen gibt.
Herr, erbarme dich.


Pfarrer Stefan Mai

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