Unsere Kirchen – ein Sammelkrug von Tränen

Predigt zum 3. Sonntag im Jahreskreis C (Neh 8,2-10)

Einleitung

Mein Freund, der an der Uni in Bonn neutestamentliche Exegese lehrt, war vor kurzem in Jerusalem, um Vorlesungen zu halten. Da besuchte er auch am Samstag den Gottesdienst in der Synagoge, den Sabbatgottesdienst. Er war tief beeindruckt von dem Augenblick, wie die Thorarolle aus dem Toraschrein geholt wurde. Da fingen alle das Jubeln an, hatten sogar Tränen in den Augen, als die Buchrolle feierlich zum Lesepult getragen und dann daraus vorgelesen wurde.
Eine solch emotionsgeladene Gottesdienstszene wird uns in der heutigen Lesung aus dem Buch Nehemia vor Augen geführt.

Predigt

Kennen Sie das? Sie schauen einen Film an und eine Szene rührt Sie so an, dass Ihnen aus Ergriffenheit die Tränen über die Wangen rinnen?
Kennen Sie das? Sie lesen ein Buch. Und auf einmal stoßen Sie auf eine Textpassage, die spricht Ihnen aus dem Herzen und Sie merken es gar nicht, wie plötzlich ein paar Tränen auf die Buchseite fallen.
Kennen Sie das? Sie fahren im Auto und denken nichts großes. Ganz nebenbei hören Sie ein Lied. Die Melodie geht Ihnen so zu Herzen oder der Text ruft in Ihnen schöne oder traurige Erinnerungen hoch, und es kullern die Tränen.
Kennen Sie das? Sie erleben einen Augenblick des Glücks, werden einfach gefühlsmäßig überwältigt, und Sie können nichts anderes als weinen?
„Tränen lügen nicht“ sang in den siebziger Jahren Michael Holm. - Er hat recht. Tränen lügen nicht. Sie drücken aus, wofür es keine Worte gibt. Es gibt Dinge, die mit keiner anderen Antwort zufrieden sind, als mit Tränen.
Tränen erzählen von Träumen, von Schmerz und von Trauer, von Befreiung, Freude und Glück, von Wut und Reue, von Liebe, Verzeihung und Vergebung. Sie erzählen von ungelebtem Leben, nicht genutzten Chancen, Erfahrungen eigener und fremder Schuld, von Unterdrückung, Verlust und Trauer. Sie sind vielleicht die menschlichste aller menschlichen Ausdrucksformen. Sie begleiten uns ein Leben lang von den ersten Tränen, die wir selbst auf den Armen unserer Mutter vergossen haben, bis zu den Tränen, die andere an unserem Grab vergießen.
Aber kennen Sie auch das, was in der heutigen Lesung geschildert wird? Da feiern die aus Babylon zurückgekehrten Juden in ihrer Heimat Jerusalem zum ersten Mal wieder Gottesdienst. Feierlich wird die Schriftrolle gezeigt, alle erheben sich und werfen sich zur Erde. Ein bewegender Moment: Das Volk lauscht in tiefer Betroffenheit den Worten der hl. Schrift und der Predigt und alle Leute fangen aus Ergriffenheit zu weinen an.

Liebe Leser,
ich liebe unsere Kirchenräume, weil sie wie ein großer Sammelkrug der Tränen sind, die Menschen geweint haben und noch weinen.
Wie viele Tausende von Menschen haben schon vor uns in den letzten Jahrhunderten in unseren Kirchen laut oder still geweint? Und wie viele Tränen fließen auch heute noch in den Räumen unserer Kirchen. So unterschiedlich wie wir sind, so unterschiedlich die Lebenssituationen sind, in denen wir stehen, so unterschiedlich sind auch unsere Tränen.
Da kommen die einen mit einer großen Sorge vor die schmerzhafte Mutter Gottes, finden keine Worte und zünden ein Lichtlein an. Da liegt anderen eine schwere Last auf den Schultern, schauen hoch zum Gekreuzigten und sind hier, um zu klagen und zu flehen. Da kommen wieder andere, erleben einen schönen Urlaubstag, freuen sich, und ihr Herz läuft über vor Glück. Andere träumen, andere hoffen, andere haben noch gar keine Worte gefunden. Sie alle haben Platz in diesem Kirchenrund. Sie alle sind willkommen. Niemand muss sich wegen seiner Tränen schämen. Unsere Kirchen, ein Sammelkrug von Tränen des Schmerzes, der Angst, der guten Erinnerungen, der Freude, des Glücks, der Ergriffenheit, der Reue und der Trauer.
Unsere Kirchen wollen uns aber auch noch eines glauben lassen: Wo auch nur eine Träne auf dieser Welt geweint wird: Gott weiß es. Und sie wollen uns diesen Trost mitgeben auf unseren Lebensweg: Unser Leben mit Freud und Leid ist in seinen Händen aufgehoben.

Fürbitten

Herr, unser Gott, du hast uns die Gabe der Tränen geschenkt. Wir bitten dich:

Wisch alle Tränen ab, Gott,
wo das schreckliche Morden ist, das Leid und die Verzweiflung der Menschen

Wisch alle Tränen ab, Gott,
gib Heimat allen, die vor dem Elend fliehen, die vertrieben werden, die verfolgt sind

Wisch alle Tränen ab, Gott,
überall dort, wo Menschen fassungslos vor Leid und Tod stehen

Lass Tränen laufen, Gott,
wo Menschen meinen, sie müssten immer nur Stärke und Härte zeigen

Lass Tränen laufen, Gott,
wo Menschen Stunden des Glücks erleben oder innerlich ergriffen sind

Lass Tränen laufen, Gott,
wo Menschen sich vergeben und wieder neu miteinander anfangen

Lass Tränen laufen, Gott,
wenn unsere Verstorbenen deine Barmherzigkeit und Güte erfahren.
Stellvertretend für alle beten wir heute für......


Pfarrer Stefan Mai

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