Seine Praxis ist auf Erden

Predigt zum 2. Sonntag nach Weihnachten (Joh 1)

Einleitung

„Kinder und Narren sagen die Wahrheit.“ „Kindermund tut Wahrheit kund.“ Da ist schon was dran, wenn Kinder ganz unverblümt alles herausplappern und ganz ungewohnte Vergleiche finden, da geht uns Erwachsenen oft was Wichtiges auf.
Eine solche Kinderwahrheit möchte ich heute bei der Auslegung eines hochtheoologischen Textes nutzen.

Predigt

Und jetzt noch eine ganz schwierige Frage, sagte der Lehrer in der Schule. Was meint ihr, Gott ist doch im Himmel, aber gleichzeitig soll er doch hier mitten unter uns sein. Wie kann man sich das denn wohl vorstellen? Nach einiger Zeit meldete sich das kleine Töchterlein des Arztes und erklärte ganz selbstsicher: Das ist doch ganz einfach. Seine Wohnung hat der liebe Gott im Himmel, aber seine Praxis, die hat er hier auf der Erde.
Schöner kann man es eigentlich gar nicht sagen. Ein ganzes Heer von Theologen hätte das nicht anschaulicher ausdrücken können. Mit zwei Sätzen hat dieses Kind das ganze Geheimnis des Johannesprologes umschrieben. Dort heißt es: „Am Anfang war das Wort. Und das Wort bei Gott …und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt.“ Und das Arzttöchterlein hat es so ins Leben übersetzt: Seine Wohnung hat der liebe Gott im Himmel, aber seine Praxis, die hat er hier auf der Erde.“
Gott hat eine Praxis auf Erden eingerichtet. So wie der Papa Arzt im ersten Stock seines Hauses seine Wohnung hat und im Erdgeschoß sein Sprechzimmer und seine Behandlungsräume. Oben wohnt er, unten praktiziert er.
Es gibt nur einen Unterschied zum Arzt: Gott wohnt inkognito – und er praktiziert inkognito. Niemand hat Gott je gesehen – weder im Himmel noch auf Erden. Und doch behaupten viele, er wirkt hier in dieser Welt. Er hat einfach viele Handlanger.
Es sind Hände, die heilsam sind, die trösten, die andern unter die Arme greifen, die behutsam Kinder ins Leben führen und alten Menschen eine Stütze sind. Er wirkt durch Menschen, die sich auf die Seite derer stellen, die keine Lobby haben, um die sich keiner kümmert. Gott wirkt durch Menschen, die den Mund aufmachen für die, die keine Stimme haben oder wenn schreiende Missstände nicht beim Namen genannt werden. Gott wirkt durch Menschen, die Gutes tun – und selbst inkognito bleiben wollen, keinen Wert darauf legen, dass sie in die Schlagzeilen kommen – und einfach dazu beitragen, dass unsere Welt ein wenig menschlicher wird.
Gott wohnt im Himmel, aber er hat seine Praxis auf Erden. Die gibt es fast überall. Nämlich dort, wo Menschen sich bei anderen aufgehoben und geborgen fühlen können.


Pfarrer Stefan Mai

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