Deine eigene Zeit

Predigt an Silvester 2015

Einleitung

An Silvester schaut alles auf die Ohren: Noch sind es sechs Stunden bis zum Jahreswechsel. Je näher er rückt, werden in den Fernsehshows die Minuten – und dann die Sekunden gezählt.
Über das Verrinnen der Zeit denken Menschen schon immer nach. In Sinnsprüchen haben sie ihre Erkenntnisse festgehalten. Hören wir zu Beginn dieses Silvestergottesdienstes einige dieser Zitate:
„Es ist nicht zu wenig Zeit, die wir haben, sondern es ist zu viel Zeit, die wir nicht nutzen“ (Lucius Annaeus Seneca).
„Die Leute, die niemals Zeit haben, tun am wenigsten“ (Georg Christoph Lichtenberg).
„Zeit hat man nur, wenn man sie sich nimmt“ (Karl Heinrich Waggerl).
„Mein einziger Feind ist die Zeit“ (Charly Chaplin).

Predigt

Wir sind es gewohnt, die Zeit genau zu messen. Exakt bis zur x-ten Stelle hinter dem Komma. Und beim Bob-Fahren entscheiden oft ein paar Tausendstel Sekunden über Platz eins und zwei.

Aber spätestens seit Albert Einstein wissen wir: Zeit ist nicht absolut, sondern relativ, abhängig vom Raum. Um das nachvollziehen zu können, braucht es aber kein Genie wie Einstein. Da reicht die ganz alltägliche Erfahrung: Für ein Kind vergeht so manche Schulstunde – vor allem wenn es sich um Mathematik oder eines seiner sogenannten Lieblingsfächer handelt – oft quälend langsam. Und mancher Schüler denkt Anfang Dezember, wie furchtbar lange die Tage bis Weihnachten noch dauern.
Manch Älterer sagt dagegen: Mein Gott, schon wieder ein Jahr vorbei. Ich weiß gar nicht, wo die Zeit hingekommen ist. Je älter ich werde, desto schneller verfliegt sie.
Wenn einer mit Verdacht auf Krebs ins Krankenhaus eingeliefert wird und langer Untersuchungsprozedur auf die Diagnose wartet, dann können Stunden wie Tage sein.
Wie wird die Zeit erfahren, was Zeit für uns bedeutet, wie schnell oder wie langsam sie für uns vergeht, ob es erfüllte oder vertane Zeit ist, hängt wesentlich von uns selbst ab: vom Alter, von den Erlebnissen, ob wir stark unter Druck und Spannung stehen oder ob wir im Urlaub sind und uns locker und frei fühlen.

Ob Zeit schnell oder langsam vergeht, das hängt davon ab, ob die Zeit uns bestimmt – oder wir die Zeit.
Dieses Thema wird im Kinderbuch Momo, das eigentlich eher etwas für Erwachsene ist, von Michael Ende treffend illustriert: Einmal zeigte Meister Hora, der Verwalter der Zeit, dem Mädchen Momo das Geheimnis der Zeit.
„Meister Hora“, flüsterte Momo, „ich habe nie gewusst, dass die Zeit aller Menschen so …“ - sie suchte nach dem richtigen Wort und konnte es nicht finden -, „so groß ist“, sagte sie schließlich. „Was du gesehen und gehört hast, Momo“, antwortete Meister Hora, „das war nicht die Zeit aller Menschen. Es war nur deine eigene Zeit.“

Im Buch „Momo“ versuchen Zeitdiebe den Menschen ihre Zeit zu stehlen. Eine „Gesellschaft grauer Herren“ veranlasst die Menschen, immer schneller und hektischer zu leben. Die Zeitdiebe versprechen den Menschen, dadurch Zeit zu sparen, welche sie dann später aufheben können. In Wirklichkeit betrügen die Zeitdiebe die Menschen aber um diese angeblich gesparte Zeit. Denn die Zeit lässt sich nicht sparen. Wenn sie vorbei ist, dann ist sie unwiederbringlich vergangen. Aber anstatt den offenkundigen Betrug einzusehen, werden die Menschen beim Zeitsparen nur immer noch hastiger – und dadurch immer gefühl- und liebloser. Ein Teufelskreis.
Deshalb bittet Momo Meister Hora: „Könntest Du es nicht ganz einfach so einrichten, dass die Zeitdiebe den Menschen keine Zeit mehr stehlen können?“ Aber Meister Hora antwortet: „Nein, das kann ich nicht. Denn was die Menschen mit ihrer Zeit machen, darüber müssen sie selbst bestimmten. Sie müssen sie auch selbst verteidigen.

Liebe Leser,
ich weiß nicht, welches Gefühl Sie haben, wenn Sie auf das vergangene Jahr 2015 zurückschauen: Ist es für Sie schnell vergangen, waren quälend langsame Stunden dabei, haben Sie in manchen Wochen gar nicht gemerkt, wie schnell die Zeit vergeht, haben Sie manchmal gedacht: Wenn es nur schon vorbei wäre, oder hatten Sie manchmal das Gefühl: Jetzt schlägst Du die Zeit bloß tot?

Musik einspielen

Liebe Leser, die letzten Stunden und Minuten des alten Jahres verrinnen. Ich glaube, es ist gut, sich im Blick auf das vergangene und auf das kommende Jahr bewusst zu machen: Ich bin nicht Knecht der Zeit. Ich muss mich nicht von selbst gesetzten Termin dauernd treiben lassen. Ich kann, wenn ich will, mir Zeit frei halten und mir Zeit nehmen, Augenblicke genießen, schöne Stunden dauern lassen, mir Zeit zum Staunen nehmen.
Und: Ich muss mir klipp und klar sagen: Alle Zeit ist ein Geschenk. Er bemisst mir meine Zeit. Er ist Herr über die Zeit. An mir ist es, die geschenkte Zeit zu nutzen.
GL 816 (evtl. Text in die Melodie sprechen)


Pfarrer Stefan Mai

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