Es begab sich aber zu der Zeit, dass Weihnachten werden sollte …

Predigt in der Christmette 2015

Einleitung

Es ist eine alte Tradition der katholischen Kirche, zu Beginn der Mette das sogenannte Martyrologium zu singen. Das ist ein Text, der die Geburt Jesu in seine Zeit einordnet. Da heißt es:
„Im Jahr 752 seit der Gründung Roms,
im 42. Jahr der Regierung des Octavianus Augustus, da auf der ganzen Erde Friede war, im sechsten Weltzeitalter, wollte Jesus Christus, ewiger Gott und Sohn des ewigen Vaters, die Welt durch seine gnadenvolle Ankunft heiligen, empfangen vom Heiligen Geist, neun Monate nach der Empfängnis, wurde er als Mensch zu Bethlehem in Juda aus Maria der Jungfrau geboren.“

Hören wir nach diesem Originaltext eine Übertragung in unsere Zeit:

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Martyrologium

Im Jahre 2015 nach der Geburt unseres Herrn Jesus Christus, in jenem Jahr,
als das Schuldendrama in Griechenland eskalierte, ganz Europa in Atem hielt, aber Griechenland vor dem Grexit bewahrt wurde,
in jenem Jahr, als beim Absturz der Germanwings-Maschine alle 150 Menschen an Bord ums Leben kamen,
in jenem Jahr, als Frankreich Zielscheibe einer beispiellosen Terrorwelle wurde, beim Anschlag auf das Satire-Magazin „Charlie Hebdo“ zwölf Menschen im Kugelhagel starben und später von Islamisten 130 Menschen völlig grundlos getötet und fast 400 teils lebensgefährlich verletzt wurden,
in jenem Jahr, als der Millionste Flüchtling in Deutschland registriert wurde und die deutsche Kanzlerin bei ihrem „Wir schaffen das!“ blieb und eine ungeheuere Welle der Hilfsbereitschaft in Deutschland aufkam,
in jenem Jahr, als in Bayern ein neuer Allzeit-Hitze-Rekord verzeichnet wurde, in Kitzingen das Thermometer auf über 40 Grad kletterte und es so heiß war wie noch nie seit Beginn der Wetteraufzeichnungen im Jahr 1881,
in jenem Jahr, als die VW-Abgasaffäre aufgedeckt wurde,
in jenem Jahr, an dessen Ende in Paris ein Klimaabkommen beschlossen wurde, das die Begrenzung der globalen Erwärmung auf deutlich unter 2 °Celsius vorsieht,
in diesem Jahr feiern wir die Geburt unseres Herrn Jesus Christus in unserer Welt und in unserem Fleisch.

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GL 758 (Heute ist uns der König)
Gebet
Gloria


Predigt

Es begab sich aber zu der Zeit, dass Weihnachten werden soll. Wieder einmal. Im Jahr 2015.
Und jedermann macht sich auf, dieses Fest zu feiern. Die meisten wollen bei der Familie sein. Feiern wie zu Kinderzeiten. Erinnerungen aufleben lassen. Darauf hoffen, dass alles gut ist, irgendwie friedlich.

Johanna
Da macht sich auf auch Johanna, 21, Studentin der Soziologie. Sie macht sich auf den Weg zum Seniorenheim. Sie folgt dem Aufruf einer Kirchengemeinde, Weihnachten mit denen zu feiern, die nichts zu feiern hätten. Sie hat drei Geschenke dabei, eingewickelt in gold, silber und pink – und ihr Cello. Johanna ist aufgeregt, eigentlich sollte sie bei ihrem Vater und ihrem Bruder sein. Aber seitdem ihre Mutter im letzten Winter gestorben ist, ist alles anders. Weihnachten wird nie mehr sein, wie es war. Sie hat viel nachgedacht in den letzten Wochen.
Im Studentenwohnheim hat sie Safranplätzchen gebacken – und jetzt in der Straßenbahn hat sie Heimweh. Nach ihrer Mutter, die nicht mehr da ist, und nach dem Weihnachtsbaum.

Herr Lehmann
Da macht sich auf auch Herr Lehmann, 47, tätig in einem Bundesministerium in verantwortungsvoller Position. Er macht sich auf mit seinem schnellen Dienstwagen in Richtung Österreich. Sein Ziel: Obertauern. Er hat ein Zimmer gebucht, in einem Bergbauernhof, mitten im Nichts. Er freut sich, dass er zum ersten Mal den Allradantrieb seines Wagens brauchen könnte, dort oben soll es kräftig schneien. Er ist unglaublich erschöpft, aber er ist auch stolz auf sich. Seit langem hat er endlich mal NEIN gesagt. Nein, Mama, dieses Jahr komme ich nicht. Ja, es ist immer schön bei euch. Ja, alles in Ordnung. Nein, ich habe niemanden kennengelernt. Versteh das doch: Ich will nur meine Ruhe haben. Ja, nein, ja – ich euch auch. Er beißt in ein Stück Stollen, das ihm seine Mutter zum 4. Advent geschickt hat. Er gibt Gas, noch zwei Stunden und 13 Minuten. Auf seinem Rücksitz liegt das neue Teleskop, Typ Star Commander Gold Edition, das er sich zu Weihnachten schenken wird.

Peter und Renate
Da machen sich auf auch, Peter und Renate. Sie machen sich auf mit der Bahn, zu Peters Mutter, die 83 Jahre alt ist. Jahrelang schon war der Kontakt abgebrochen. Es herrschte Funkstille zwischen ihnen. Denn Peters Mutter war nicht auf der Hochzeit, weil sie etwas gegen Renate hatte. Aber jetzt, wo die Mutter immer älter wird, ein wenig wunderlich ist – sie haben telefoniert, und Mutter hat gesagt, kommt doch, bitte. Nicht komm, sondern kommt. Ich weiß nicht, ob wir das können, nach allem was du Renate angetan hast.

Aber es ist doch Weihnachten und ich hab schon die Krippe aufgebaut, sagt Mutter

Johanna
Und als sie dort ist, als Johanna kurz nach vier angekommen ist in ihrem Seniorenheim, ist sie die einzige, die dem Aufruf der Kirchengemeinde gefolgt ist. Eine Neonröhre flackert, eine CD mit englischen Weihnachtsliedern läuft, es klingt wie bei Edeka. Johanna schaut sich um, eine Pflegerin bringt ihr einen Teller. Sie sagt, sie könne sich ja unterhalten mit den alten Leutchen, müsse aber sehr laut reden; um fünf würden alle wieder in ihre Zimmer gebracht und eine Weihnachtsgeschichte hätte man schon vorgelesen. Johanna packt ihr Cello aus und spielt. O du fröhliche, Ich steh an deiner Krippen hier, Stille Nacht. Sie wird immer sicherer, spielt immer lauter, und nach ein paar Minuten singen ein paar der Alten mit. Nach dem dritten „O du fröhliche“ steht Johanna auf und verteilt ihre Geschenke. Sie legt einfach eins auf jeden Tisch und sagt: Fröhliche Weihnachten! Die Geschenke werden ausgewickelt, Johanna muss lächeln, wenigstens keine falsche Bescheidenheit, Geschenkpapier fällt zu Boden, ein alter Herr hat die Flasche mit dem Parfüm in der Hand. Pffffh – Und, riech ich nicht gut?, ruft er; das Parfüm macht die Runde unter fröhlichen Aahs und Oohs. Am Nachbartisch zählen die Damen den Inhalt einer Keksdose ab. Für jeden ein halbes, sagt eine und schneidet Johannas Safrankekse durch. Auch das letzte Geschenk wird geteilt, es ist ein Stern aus goldenem Papier, ein hagerer Mann zeigt ihn hoch, steht auf und befestigt ihn an dem künstlichen Weihnachtsbaum.

Mittlerweile ist es fünf, die Pflegerinnen wollen aufräumen. Aber da meldet sich ein Rollstuhlfahrer zu Wort: Halt, so können wir nicht auseinandergehen.

Herr Lehmann
Herr Lehmann ist inzwischen in Obertauern angekommen. Wenig später sitzt er in der Küche. Er ist der einzige Gast, es gibt Speck und Entensuppe, das Bergbauernpärchen ist freundlich und fragt ihn, was er so mache, und er erzählt, dass er im Ministerium für Migration arbeite, ja, Flüchtlinge auch, vor allem Syrer, um Gesetze ginge es da, um Verantwortung und Rechtssicherheit. Nach einer Pause sagt die Bäuerin, das träfe sich ja gut, wenn er wolle, könne er doch mitkommen, sie würden gleich ins Dorf runter fahren, es gäbe da eine große Weihnachtsfeier im Auffanglager, aber, Entschuldigung, Sie sind ja nicht deswegen hier, ich werde Ihnen rasch ihr Zimmer zeigen. Ja, sagt Herr Lehmann, er brauche seine Ruhe – und er wolle den Sternenhimmel beobachten, hier in Obertauern sei es ja so extrem dunkel. Genau, sagt die Bäuerin, da sind Sie genau richtig hier. Und Herr Lehmann bezieht sein Bett, und er baut sein Fernrohr auf dem Balkon auf, und er zieht sich sehr warm an – und er schaut in den Himmel.

Peter und Renate
Peter und Renate sind bei Peters Mutter angekommen. Sie klingeln. Die Mutter kommt an die Türe und grüßt freundlich. Wie sie am Tisch sitzen und eine etwas zu lang gebratene Gans auseinandernehmen, wird kaum gesprochen. Alle drei spüren die Unsicherheit.

Keiner weiß so recht, was er reden soll. Da geht Peters Mutter zur Krippe und nimmt den Engel aus der Krippe, schaut ihn eine Zeit lang an und meint: Der hat doch damals den Frieden auf Erden verkündet. Könnten wir nicht auch wieder gut miteinander sein. Und Renate steht auf und reicht ihr die Hand.
Und es sind Frauen und Männer in jeder Gegend
Und es sind Frauen und Männer in jeder Gegend, die feiern Weihnachten. Einige haben Spätschicht. Andere gehen in die Kirche. Manche sind fremd im Land oder auf Durchreise. Einige halten sich versteckt. Andere frieren und haben kein Dach über dem Kopf. Viele streiten sich. Genauso viele geben sich redlich Mühe, sich wieder zu versöhnen. Aus den Kirchen klingen die alten Lieder.

Und der Engel spricht zu ihnen allen (und er gibt sich wirklich Mühe, dass es auch alle hören): Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr.
Und alsbald ist da bei dem Engel die Menge der himmlischen Heerscharen, die strömen aus in die Berge und an die Küste, nach Obertauern und nach Schweinfurt und nach Gerolzhofen, nach Rostock und nach Hamburg, die loben Gott und sprechen: Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens.

Johanna
Und als die Engel von ihnen gen Himmel fahren, liest im Seniorenheim der Rollstuhlfahrer in feierlichem Ton die Weihnachtsgeschichte vor.

Herr Lehmann
Zur gleichen Zeit werden in einem Dorf in Obertauern Geschenke von Einheimischen an syrische Flüchtlinge verteilt, während Herr Lehmann in den Sternenhimmel über den Bergen schaut und seit langem wieder einmal innere Ruhe spürt.

Peter und Renate
Nur wenige Minuten später gehen Peter, Renate und ihre Schwiegermutter gemeinsam in die Christmette – und als sie am Schluss singen „Gottes Sohn, o wie lacht“, lächelt die Mutter Peter und Renate an.

Fürbitten

Diese Nacht feiern oder verbringen Menschen in verschiedenen Lebenssituationen. Gott wir bitten dich:

Wir beten in dieser Nacht für alle Menschen,
die in dieser Nacht müde und ausgelaugt sind
und sich nach nichts anderem als Ruhe und Erholung sehnen

Wir beten für alle,
die im Familienzwist leben und auf Versöhnung und einen Neubeginn hoffen

Wir beten für die Menschen,
die in fremden Ländern um Asyl bitten und für alle,
die ihnen beratend und helfend zur Seite stehen,
ihnen Hilfe und Schutz gewähren und sie freundlich aufnehmen.

Wir beten für alle Menschen,
die in den vielen Asylverfahren täglich über Abschiebung oder Bleiberecht entscheiden müssen

Wir beten für die Menschen,
die in diesen Tagen Eltern werden:
für all jene, die sich lange schon auf Nachwuchs gefreut haben,
und für alle, die mit ihrem Kind vor nicht gewollte Herausforderungen gestellt werden:

Wir beten für all jene Menschen,
die an Weihnachten Ängste ausstehen müssen,
weil sie das Fest in den Kriegs- und Katastrophengebieten der Erde feiern.

Wir beten für alle,
die am Geburtsfest deines Sohnes ihren Lebenskreis vollenden
und eine letzte und ewige Heimat finden in deinem Reich.

Wir beten für alle Menschen, die uns in unserem bisherigen Leben begleitet haben, und uns bereits in die Ewigkeit vorausgegangen sind.


Pfarrer Stefan Mai

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