Wohin soll ich mich wenden?

Predigt zum 4. Adventssonntag (Lk 1,39-45)

Einleitung/b>

Wie vielen Menschen sind Sie heute schon begegnet?
Wie sind Sie Ihnen begegnet? Eher beiläufig oder waren Sie länger mit ihnen im Gespräch?
Worüber haben Sie geredet?
Mit welchem Gefühl sind Sie den Menschen begegnet? Mit einem gutem Gefühl, mit innerem Unbehagen, vorurteilsfrei?

Predigt

- Liedmelodie Gl 145 leise spielen -

Diese Melodie ist uns allen vertraut – die Melodie des Eingangliedes aus der Schubertmesse. Viele kennen den Text auswendig: "Wohin soll ich mich wenden, wenn Gram und Schmerz mich drücken? Wem künd' ich mein Entzücken, wenn freudig pocht mein Herz?" Vergeblich haben einige Kirchenmusiker versucht, dieses an die Emotionen gehende Lied aus dem kirchlichen Liedschatz zu verbannen. Viele Menschen fühlen sich in Freud und im Leid vom Text und der Melodie des Schubertliedes angesprochen und verstanden. Und viele Menschen haben schon am eigenen Leib, besser an der eigenen Seele, Gefühle und Gemütsverfassungen erlebt, die sie mit niemand aus ihrer Umgebung teilen konnten; seien es schmerzliche oder auch freudige. Wohin soll ich mich damit wenden?
Ja, es ist nicht leicht einen Menschen zu finden, mit dem man die tiefsten Gefühle oder gar Glaubenserfahrungen teilen kann. Und oft haben selbst die eigenen Partner keine Antenne dafür.

Diskutieren kann man heute bei uns ohne Tabu über fast alles. Ganz persönliche Empfindungen und Glaubenserfahrungen möchte ich aber keiner Diskussion preisgeben. Dafür wünsche ich mir Gesprächspartner, die mich anhören, verstehen und bereit sind, den kostbaren Schatz meiner Erfahrung mit mir zu teilen und zu hüten. Und manches Mal geschieht es tatsächlich, dass mir dann mein Gegenüber seine oder ihre persönlichen Erfahrungen anvertraut.

Im heutigen Evangelium wird uns in der Heimsuchungsgeschichte eine solch tiefe Begegnung zwischen Maria und Elisabeth erzählt.
Das Evangelium stellt uns zwei Frauen vor, die überglücklich sind, jemand zu begegnen, der ihre Freude und vielleicht auch ihre ganze Unsicherheit und Angst mitvollziehen kann. Diese Szene führt uns vor Augen, was tiefe Begegnung zwischen zwei Menschen bedeutet.

Es heißt: Maria machte sich auf den Weg und eilte in eine Stadt im Bergland von Judäa.
Da treibt es einen Menschen direkt zu einem anderen. Sie eilte – heißt es. Sie freut sich auf und sehnt sich nach dieser Begegnung. Sie überwindet Berge, um zu Elisabeth zu kommen.
Das heißt: Eine gelungene Begegnung braucht eine positive Grundeinstellung zu meinem Gegenüber. Ich investiere Zeit und Kraft, um die Begegnung möglich zu machen.

Im Evangelium heißt es weiter: Maria ging in das Haus des Zacharias und begrüßte Elisabeth.
Das ist kein flüchtiges Hallo, wie geht’s? Und schon geht’s weiter. Nie werde ich die Begegnung vor über 30 Jahren mit einer alten Frau in einem Aschaffenburger Altenheim vergessen. Die alte Frau saß in ihrem Sessel und ich auf einem Stuhl ihr gegenüber. Ich wusste, um vier Uhr musst du zum Kindergottesdienst wieder daheim sein. Um mich zeitlich zu orientieren, hob ich leicht meinen Blick und schaute meiner Meinung nach unauffällig auf die Uhr, die über dem Kopf der Frau an der Wand hing. Da unterbrach die alte Frau das Gespräch und meinte: „Herr Kaplan, sagen Sie doch, dass sie keine Zeit haben und weg müssen.“ Ich erschrak und schämte mich. Beim Hinausgehen fragte ich die Frau: „Darf ich trotzdem wieder bei Ihnen einmal vorbeikommen?“ Die Frau: „Vorbeikommen brauchen Sie bei mir nicht. Wenn, dann kommen Sie zu mir herein!“ Das war eine Lektion für das Leben.
In einer gelungenen Begegnung betritt ein Mensch den Lebensbereich des andern, und der andere gewährt ihm Zutritt. Da sagt ein Mensch „Grüß Gott“ und meint es Ernst mit diesem Gruß: Durch mich grüßt dich Gott. Welch ein Anspruch, der hinter unserem Alltagsgruß steckt!

Als Elisabeth den Gruß Marias hörte, hüpfte das Kind in ihrem Leib.
Heißt das nicht: Tiefe Begegnungen gehen über den Bauch, nicht über den Verstand. Sie bringen in mir etwas zum Schwingen. Lassen mich tiefes Einverständnis spüren, lassen mich mein inneres Kind spüren, das nicht anders kann als Vertrauen zu schenken und darauf vertraut: Der andere meint es einfach gut mit mir.

Maria blieb bei Elisabeth drei Monate. Dann kehrte sie nach Hause zurück.
Da fühlt sich ein Mensch beim anderen daheim. Und in diesem Vertrautsein können sie auch über Dinge reden, die sie bewegen, die zwischen ihnen ein Geheimnis bleiben. Und zwei Menschen gehen beschenkt von dieser Begegnung wieder weg, ohne einander zu klammern.

Liebe Leser,

ich frage mich, ob Menschen sich nicht gerade an Weihnachten nach nichts mehr als nach solch tiefen Begegnungen sehnen?

Orgel improvisiert über das Lied „Als Maria übers Gebirge ging...“


Pfarrer Stefan Mai

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