Mit zwei Friseurgeschichten ins Jahr der Barmherzigkeit

Predigt zum 3. Adventssonntag 2015

Am vergangenen Dienstag, dem 8. Dezember, hat Papst Franziskus das „Heilige Jahr der Barmherzigkeit“ feierlich eröffnet. In einem besonderen Zeremoniell hat er an die hl. Pforte im Petersdom geklopft und mit dem Öffnen und Hindurchschreiten durch diese hl. Pforte den Startpunkt gesetzt.
Im Bistum Würzburg eröffnet Bischof Hofmann das Heilige Jahr am heutigen Sonntag im Kiliansdom mit einem Pontifikalgottesdienst. Anschließend ziehen die Gläubigen in einer Prozession in die Franziskanerkirche, wo die Würzburger „Pforte der Barmherzigkeit“ feierlich geöffnet wird.
Weihbischof Ulrich Boom öffnet zur gleichen Zeit bei einer Vesper um 16 Uhr in der Aschaffenburger Kapuzinerkirche die dortige „Pforte der Barmherzigkeit“. Auch auf dem Kreuzberg in der Rhön wird es im Heiligen Jahr eine „Pforte der Barmherzigkeit“ geben. Diese wird mit Beginn der Wallfahrtssaison am Fest Kreuzauffindung in der Wallfahrtskirche am Kreuzberg geöffnet.
„Bitten wir Gott, dass das Heilige Jahr der Barmherzigkeit wirklich eine Zeit der Gnade für jeden Einzelnen und jede Einzelne von uns, für die gesamte Kirche und für ihr Zeugnis vom Evangelium in der Welt wird und so wir selbst zu einer Tür der Barmherzigkeit werden, wie sie Jesus Christus für uns alle ist“, sagt Bischof Hofmann.
Ich möchte heute nicht so hochtheologisch in das Jahr der Barmherzigkeit einsteigen, sondern mit zwei Alltagsgeschichten aus einem Friseurgeschäft:

Friseurgeschichte 1

Der Theologe Guido Fuchs erzählt:

Vergangene Woche war ich beim Friseur. Neben mir wurden einem kleinen Jungen die Haare geschnitten. Als der Friseur damit fertig war, nahm er einen Spiegel, hielt ihn hinter den Kopf des Jungen, dass der sich von allen Seiten betrachten konnte, und fragte ihn: „Na, gefällst du dir?“ Der Junge sah sich lange und gründlich an,
dann sagte er voller Zufriedenheit: „Ja!“


Und Guido Fuchs zieht daraus ein Resümee:

Beneidenswert. Wer von uns bringt es schon fertig, ohne Einschränkung von ganzem Herzen „ja“ zu sagen, wenn man ihn fragen würde: „Gefällst du dir?“ Wenn wir ehrlich sind, wissen wir um unsere kleineren und größeren Fehler und Schwächen, die unser Spiegelbild doch etwas trübe werden lassen.
Jesus von Nazareth sagte einmal: „Du sollst Gott lieben und deinen Nächsten wie dich selbst.“ Das heißt nicht, dass wir selbstverliebt sein sollen, aber dass wir uns selbst wert schätzen, stolz auf uns sein dürfen, weil jeder und jede etwas Besonderes ist – auch wenn das Leben uns kleine Schrammen und größere Dellen verpasst.

Liebe Leser, ist es nicht so? Das Jahr der Barmherzigkeit beginnt an meiner eigenen Tür, bei jedem selbst, denn nur wer sich selbst annimmt, kann auch anderen gegenüber barmherzig sein.

Friseurgeschichte 2
(aus: Der Andere Advent 2015, 6.12)

Kai-Uwe Scholz erzählt:

Zu meinem türkischen Friseur, Herrn Murat, gehe ich schon seit ewigen Zeiten. Herr Murat heißt für mich Herr Murat, weil sein Nachname so kompliziert auszusprechen ist. Daher hat er bei meinem ersten Besuch in seinem Salon vorgeschlagen, dass ich ihn einfach beim Vornamen nennen soll.
Herr Murat und ich wissen genug voneinander, um jederzeit in einen kleinen Austausch treten zu können. Wir reden über seine Kinder und über meine Kinder, über seine Heimat an der Schwarzmeerküste und meine Heimat in einer norddeutschen Moorgegend, über seinen Bruder, der in Istanbul wohnt, und über meinen Bruder, der in der Schweiz wohnt. Aber wir müssen nicht reden. Er bittet mich mit einer Handbewegung auf seinen Sessel, wäscht mir die Haare und legt los. Schnipp,schnapp. Oft schließe ich derweil die Augen und lasse die Gedanken laufen. Herr Murat ist dann ganz leise. Fast habe ich das Gefühl, er schneidet extra behutsam. Ab und zu tritt er zurück und betrachtet sein Werk. Diese Pausen stören mich nicht. Ich kenne das ja und denke einfach weiter.
Bis mir neulich die Pause einen Tick zu lang vorkam und ich die Augen öffnete. Mir ging grad so viel durch den Kopf. Die Last des Lebens hatte sich auf meine Seele gelegt und bedrückte mich. Ich machte mir Sorgen, die man nicht einfach so erzählt. Jedenfalls nicht im Frisiersessel. Sorgen, die man hinter Stirn und Augenlider verborgen halten kann – wie ich glaubte. Herr Murat stand an den Spiegel gelehnt, hatte die Schere sinken lassen und schaute mich an – freundlich, fast ein wenig liebevoll. Er muss an meinem Gesicht abgelesen haben, dass ich Zuspruch brauchte. Und er gab ihn mir: „Keine Sorge!“, sagte er. „Alles wird gut.“ Es war ein Segen.


Liebe Leser, ist es nicht so: Das Jahr der Barmherzigkeit beginnt mit der Tür zu meinem Mitmenschen, dort, wo Menschen aufmerksam, unaufdringlich und einfühlsam ein gutes Auge für ihren Mitmenschen haben?

Zwei heilige Pforten der Barmherzigkeit:
Durchschreiten Menschen nicht die Pforte der Barmherzigkeit, wo sie barmherzig mit sich selbst sind.
Durchschreiten Menschen nicht die Pforte der Barmherzigkeit, wo sie ein gutes Auge füreinander haben, barmherzig und warmherzig mit ihren Mitmenschen umgehen?


Pfarrer Stefan Mai

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