Kleines Beispiel

Predigt zum 32. Sonntag im Jahreskreis (1 Kön 17,10-16; Mk 12,38-44)

Einleitung

Es ist ein durchgängiger Zug im Markusevangelium, dass Jesus einen Faible für die Kleinen hat, für die Menschen, die keinen großen Namen haben, die in der Gesellschaft keinen hohen Rang besitzen, die nichts Großes vorweisen können – aber in einem ganz groß sind und als Vorbild vor Augen gestellt werden: In ihrem unerschütterlichen Vertrauen zu Jesus und auf Gott.
So auch im heutigen Evangelium: Jesus beobachtet das Verhalten der Großen und einer Kleinen im Tempel.

Predigt

In den Lesungen haben wir heute zwei Witwengeschichten gehört. Geschichten von zwei Menschen, die in der damaligen Welt eine höchst gefährdete Existenz lebten. Witwen gehörten zum Rand der Gesellschaft, zum Prekariat, zu den Menschen in aussichtsloser Lebenslage, die nicht wussten, wie sie den Tag bestehen sollten: finanziell völlig ungesichert, rechtlich schutzlos. Irgendwie mussten sie sich durchs Leben schlagen.
Und ausgerechnet solche Menschen, die eigentlich nichts mehr haben, geben noch her. Jesus zieht vor einer solchen Witwe, die einfach gibt, was sie hat, die sich nichts aufspart, den Hut und stellt sie als Lebensbeispiel seinen Zuhörern und uns vor Augen.

Dichter sind ebenso sensible Beobachter von Menschen, gesellschaftlichen Strömungen und Trends. Der österreichische Dichter Erich Fried beobachtet in unsere Gesellschaft einen anderen Trend: Sich absichern, auf sich schauen, sich fragen, wo bleibe ich, bevor ich an und für andere denke, übertriebene Sorge um sich selbst. Wie Jesus mit dem Beispiel der Witwe im Tempel die Menschen seine Zeit über ihre Lebenshaltung zum Nachdenken bringen will, so hält auch Erich Fried eine weitverbreitete Lebenseinstellung uns mit seinem Gedicht „Kleines Beispiel“ vor Augen.

Kleines Beispiel

Auch ungelebtes Leben
geht zu Ende
zwar vielleicht langsamer
wie eine Batterie
in einer Taschenlampe
die keiner benutzt
Aber das hilft nicht viel:
Wenn man
(sagen wir einmal)
diese Taschenlampe
nach so- und sovielen Jahren
anknipsen will
kommt kein Atemzug Licht mehr heraus
und wenn du sie aufmachst
findest du nur deine Knochen
und falls du Pech hast
auch diese
schon ganz zerfressen

Da hättest du
genau so gut
leuchten können


Ich höre die gleiche Botschaft aus diesem Gedicht heraus wie aus der meisterhaften Jesuserzählung:
Die Angst, zu kurz zu kommen, das übertrieben Kreisen um dich selbst, bringt dich ums Leben. Was bleibt dir vom Leben? Nur, was du im Leben gegeben hast aus Liebe. Nur, wodurch das Leben um dich herum durch dich ein wenig heller war.


Fürbitten

In unserem Lied zur Gabenbereitung singen wir: Alles, was wir haben, alle unsre Gaben, alles was wir haben, schenken wir dir hin...
Gott, wir bitten dich:

Wir beten für alle Menschen, die ohne Applaus Gutes tun, deren Gabe wirklich ein Opfer ist

V/A: Herr, erbarme dich

Wir beten für die vielen Witwen in unserem Land und für die alleinerziehenden Mütter und Väter, die es oft schwer haben, Beruf und Erziehung ihrer Kinder in Einklang zu bringen

Wir beten für alle, die auf Unterstützung angewiesen sind. Für alle, die ans Krankenlager gefesselt sind und für alle, die ohne Hoffnung sind.

Wir beten für alle, die in Asylunterstützerkreisen und in der Nachbarschaftshilfe Kraft, Zeit und Geld investieren

Wir beten für unsere Toten, die in ihrer Größe und Schwäche, mit dem, was in ihrem Leben gelungen und misslungen ist, vor dir stehen.
In diesem Gottesdienst nennen wir stellvertretend die Namen von...


Pfarrer Stefan Mai

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