Jesus von Nazaret und der Jesus der Christen

Predigt zu Mk 8,27-35 (B/24)

Einleitung

Wenn ein Augustinus im 4. Jh. in die katholische Basilika von Karthago ging, sah er das Christusbild seines Jahrhunderts groß auf der Apsiswand: Christus als Weisheitslehrer.
Wie anders ist das Christusbild, das Matthias Grünewald über 1000 Jahre später im Isenheimer Altar gemalt hat: Christus als der Leidende.
Wie anders wieder das süßliche Jesusbild der Nazarener im 19. Jahrhundert und der Schwester Faustina, das sich vor allem in konservativ geprägten Kreisen größter Beliebtheit erfreut.
Jede Zeit gibt auf die Frage Jesu, die wir heute im Evangelium hören: „Für wen haltet ihr mich?“, ihre eigene Antwort und fordert auch meine Antwort heraus.

Predigt

Khalil Gibran, ein im Libanon geborener Schriftsteller, der in seinen philosophisch angehauchten Texten einen Brückenschlag zwischen westlicher und arabischer Kultur versucht und bis heute für viele nach Lebensweisheit Suchende ein Geheimtipp ist, erzählt in einer wenig bekannten Geschichte folgendes:

Einmal, alle hundert Jahre, trifft Jesus von Nazareth
den Jesus der Christen in einem Garten
zwischen den Hügeln des Libanon.
Und sie sprechen lange, und jedes Mal geht Jesus von Nazareth fort,
indem er zum Jesus der Christen sagt:
”Mein Freund, ich fürchte, wir werden niemals,
niemals übereinstimmen.”


Verrückt, was da Khalil Gibran erzählt: Ausgerechnet die Christen sollten ihren Jesus nicht kennen. Ausgerechnet die Christen, die doch meinen, am besten über Jesus von Nazaret Bescheid zu wissen. Die Christen, die wissen: Jesus ist der Christus, der Sohn Gottes, die zweite Person der allerheiligsten Dreifaltigkeit, der uns von Sünde und Tod erlöst hat. Wer sonst sollte eigentlich diesen Jesus von Nazaret wirklich von innen heraus kennen, wenn nicht die Christen.
Aber in seiner Geschichte lässt Khalil Gibran Jesus von Nazaret dem Jesus der Christen sagen: „Mein Freund, ich fürchte, wir werden niemals, niemals übereinstimmen.”
Haben wir etwas übersehen? Warum macht der Dichter Gibran einen Unterschied zwischen Jesus von Nazaret und dem Jesus der Christen? Worauf will er uns aufmerksam machen?
Ich glaube, er führt die Stimme des Evangelisten Markus weiter, der im heutigen Evangelium etwas Ähnliches erzählt. Jesus fragt ab, was „die Leute“ über ihn denken – und was im Unterschied dazu „seine eigenen Leute“ über ihn denken. Stolz bekennt Petrus, was wir bis heute für das Entscheidende an Jesus halten: „Du bist der Christus, der Messias!“
Und siehe da: Jesus weist diese Antwort zurück. Er gebietet seinen Jüngern darüber Schweigen. Genauso wie er den Dämonen Schweigen gebietet, wenn sie Jesus mit einem so schönen Titel ansprechen (vgl. Mk 3,11).
Soviel sollte klar sein: Mit den schönen Titeln kommen wir Jesus nicht bei. Bei ihm geht es um etwas anderes. Und darüber belehrt er seine Jünger in dieser Szene.
Am Ende steht es klipp und klar da. Jesus ruft außer den Jüngern auch noch die Volksmenge zusammen und sagt ihnen: „Wer mein Jünger sein will, der verleugne sich selbst, nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach. Wer sein Leben retten will, wird es verlieren. Wer aber sein Leben um meinetwillen und des Evangelium willen verliert, wird es retten.“
Es geht bei Jesus nicht um Titel, sondern um einen Lebensweg. Und den kann man in den vielen Geschichten über Jesus lernen.
Jesus ist sich klar: Wer so lebt, wie er es versucht hat, erntet keinen Lorbeer, der steht nicht als glänzender Sieger da. Ja, der wird sogar anecken, gerade bei den Großen und Mächtigen, besonders bei den religiösen Führern: „Der Menschensohn muss … von den Ältesten, den Hohenpriestern und Schriftgelehrten verworfen werden“ (Mk 8,31). Aber Jesus lässt sich davon nicht beirren. Er vertraut auf seinen Gott: „Nach drei Tagen werde er auferweckt“ (Mk 8,31).
Liebe Leser, was Khalil Gibran genauso wie schon der Evangelist Markus uns Christen fragt ist: Pocht ihr nur auf schöne Titel für Jesus als Christus und Gottes Sohn, oder geht und lebt ihr wirklich in den Spuren des Jesus von Nazaret? Besteht für euch Lebensgewinn und Glück darin, euch für andere einzusetzen – und dabei ruhig den Großen auf die Füße zu treten, oder wollt ihr mit dem Christus und Gottessohn auf den Lippen nur selbst groß rauskommen?
Oder mit den Worten Jesu selbst gesagt: Denkt ihr Gottes Gedanken – in den Spuren des Jesus von Nazaret, oder denkt ihr eure eigenen menschlichen Gedanken – in den Spuren des Jesus der Christen?

Fürbitten

Herr, unser Gott. Jesus fragt: „Ihr aber, für wen haltet ihr mich?“ Wir bitten dich:

Für alle, für die Jesus von Nazareth eine Bedeutung hat.
Für alle, die ihn als menschliches Vorbild verehren und nacheifern
Für alle, die ein persönliches Verhältnis zu ihm haben.

V/A: Herr, erbarme dich

Für alle, die um die Wahrheit ringen
Für alle, die einen Zugang zum Glauben suchen
Für alle, die zu Christus stehen

V/A: Herr, erbarme dich

Für alle, die verantwortlich sind für die Bewahrung des Glaubens
Für alle, die über ihn forschen, schreiben und predigen
Für alle, die religiöse Texte lesen und hören, bewerten und beurteilen

V/A: Herr, erbarme dich

Für alle, denen ein schweres Kreuz auf den Schultern liegt
Für alle, die unverschuldet ins Elend gestürzt wurden
Für die Kranken und Sterbenden, die zum Kreuz aufblicken

V/A: Herr, erbarme dich

Nach der Kommunion

In dem Buch „Wer ist Jesus von Nazaret – für mich?“ hat Heinrich Spaemann Zeugnisse von Menschen unserer Tage gesammelt. Da stehen Antworten wie diese:

BARBARA ALBRECHT: Jesus Christus ist der Grund meiner Hoffnung

RUDOLF SCHNACKENBURG: Jesus ist mir die vorher nie dagewesene und niemals überholbare Offenbarung Gottes in seiner Zuwendung zu den Menschen und in seinem Anspruch an die Menschen, und zwar in einer Weise, dass ich selbst durch Jesus unmittelbar angesprochen und herausgefordert bin ...

HELMUT GOLLWITZER: Er stört mich. Ich kann mich wegen seines Dazwischentretens nicht verhalten, wie ich zunächst wollte ... Er ringt mit mir! So gestört zu werden ist das Heilsamste, was uns widerfahren kann.

DOROTHEE SÖLLE: Was tut er mir? Ich lerne von ihm, allen Zynismus zu überwinden ... Er beschämt mich – meine endliche, ungeduldige, teilweise, oberflächliche Bejahung. Er lehrt mich ein unendliches, revolutionäres, nichts und niemanden auslassendes Ja.

VERA VON TROTT: Der mein ganzes Leben in Frage stellt – und ihm Sinn gibt.


Pfarrer Stefan Mai

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