Durchbuchstabieren

Predigt zu Eph 4,30-5,2 (B/19)

Einleitung

Eine beliebte Methode im Unterricht oder bei Geburtstagsgratulationen ist es, die Buchstaben eines Begriff oder des Namens des Geburtstagskindes auf große Plakate zu schreiben – und dann zu jedem Buchstaben ein Wort zu finden, das den Begriff oder die Person plastisch vor Augen führt.
EMIL hat Geburtstag. Da steht ein Freund auf und hält ihm seinen Namen vor Augen: Das bist du: E wie einzigartig; M wie müde; I wie intelligent; und L wie lässig.
Und schon wird ein Allerwelts-Emil zu einem Emil mit Profil.
Der Autor des Epheserbriefes macht heute etwas Ähnliches.

Predigt

In den 70er Jahren erschien ein viel beachtetes theologisches Werk, das den Titel trug: „Unsere großen Wörter“. Der Alttestamentler Norbert Lohfink versuchte in diesem Buch, große Begriffe unseres Glaubens auf dem biblischen Hintergrund zu durchleuchten. Begriffe wie „Heilsgeschichte“, „Befreiung“, „Gottesvolk“, „Liebe“, „Charisma“ wurden im wahrsten Sinn des Wortes durchbuchstabiert.
Das Buch wurde zu einem theologischen Bestseller. Daran zeigt sich: Selbst gelehrte Theologen hungern danach, dass theologische Begriffe mit Fleisch gefüllt und ins Alltagsleben heruntergebrochen werden; dass die großen Wörter nicht nur blasse Theorie bleiben, sondern konkret und lebenstauglich werden.
Das scheint mir schon der Autor des Epheserbriefes gespürt zu haben. In dem kurzen Abschnitt, den wir heute gehört haben, finden wir sie zuhauf, die großen Wörter: Tag der Erlösung, Liebe, Hingabe, Vergebung, Opfer und Gabe.
Aber vor einem hütet sich der Verfasser: Er fängt nicht an, lange Abhandlungen über diese großen Wörter zu schreiben, sie hin- und herzuwälzen. Er will nicht durch gelehrte Definitionen glänzen und lässt sich auch nicht in theologische Dispute ein.
Er erklärt nicht die Begriffe, sondern sagt: Macht’s – dann wisst ihr selbst, was es bedeutet!
Er erklärt nicht, was es heißt „Gott hat euch durch Christus vergeben“, sondern er sagt: „Jede Art von Bitterkeit, Wut, Zorn, Geschrei und Lästerung und alles Böse verbannt aus eurer Mitte. Seid gütig zueinander, seid barmherzig! Vergebt einander, weil auch Gott euch durch Christus vergeben hat.“
Und er erklärt auch nicht, was es heißt: „Christus hat sich für uns hingegeben“, sondern sagt: „Ahmt Gott nach als seine geliebten Kinder und liebt einander, weil auch Christus uns geliebt und sich für uns hingegeben hat.“
Liebe Leser,
in einer Zeit, in der die großen Wörter des Christentums für viele zu frommen Worthülsen geworden sind, scheint mir die Weisheit des Epheserbriefes eine gute Handlungsanweisung zu sein.
Und der Epheserbrief steht damit nicht allein. Schon von Konfuzius wird der Satz überliefert: „Erkläre es mir, und ich werde es vergessen. Zeige es mir, und ich werde es vielleicht behalten. Lass es mich tun, und ich werde es verstehen.“
Ich kann mir gut vorstellen, dass ein Katechismus der Zukunft nach diesem Grundsatz aufgebaut ist. Keine Glaubensformeln: Vergebung heißt das und das, sondern Geschichten von Menschen zu erzählen, die es in schwierigen Lebenssituationen fertig gebracht haben, Vergebung zu leben.
Nicht einfach zu behaupten: Christus hat sich für uns geopfert. Sondern konkrete Beispiele zu erzählen, wo Menschen große Opfer gebracht haben.
Nicht „Erlösung“ zu definieren, sondern von Menschen zu erzählen, die nach einer schweren Krise sich wie erlöst fühlen, die nach der Lösung eines schweren Problems wieder frei durchatmen können.
Kurz: Nicht Theologie zu erklären, sondern aus dem Leben der Menschen Theologie abzulesen.

Fürbitten

Herr, unser Gott, höre du unsere Bitten:

- Für alle, die in Gesellschaft und Kirche Gesetze und Verordnungen ausarbeiten und für ihr Einhalten Sorge tragen
V: Lasset zum Herrn uns beten:
A: Herr, erbarme dich …

- Für alle Erzieherinnen und Lehrer, die Kinder durch praktisches Tun zu wichtigen Erkenntnissen führen möchten …

- Für alle, die von Berufs wegen das Evangelium verkündigen und sich immer fragen, ob ihre Worte Bedeutung fürs Leben haben und durch ihr eigenes Leben abgedeckt sind …

- Um Einsicht für alle, die überzeugt sind, dass ihre Ansichten die richtigen sind und die sie mit Gewalt durchsetzen möchten …

- Um Zufriedenheit für alle, die entsprechend ihrer Überzeugung leben, auch wenn sie angefochten werden

- Um Frieden für unsere Toten, die versucht haben, ihr Leben aus dem Glauben heraus zu gestalten


Pfarrer Stefan Mai

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