Das Wunder der Generosität

Predigt zu 2 Kön 4,42-44 (B/17)

Einleitung

Nichts gegen Bibelteilen. Nichts dagegen, dass in kleinen Runden Bibeltexte gelesen, dass einzelne diejenigen Worte, die sie besonders angesprochen haben, laut wiederholen und meditieren.
Aber meine Erfahrung zeigt mir: Wenn man die geschichtlichen Hintergründe nicht kennt, kann es sein, dass einem der springende Punkt an einem Text gar nicht auffällt – und man dann dem eigentlichen Anspruch des heiligen Textes auch nicht gerecht werden kann.
Das ist mir wieder aufgegangen an der heutigen Lesung aus dem zweiten Buch der Könige.

Predigt

Wie kann das sein: So wenig Brot für so viele Leute? Und dann bleibt auch noch übrig?
Wie kann das sein: Zaubert Elischa, der Gottesmann? Oder gibt es geheimen Nachschub? Oder holen die Leute gar verstecktes Brot aus ihren Säckeln?
Alle derartigen Erklärungsversuche des Brotwunders werden scheitern. Denn es ist der Text selbst, der eine eindeutige Erklärung liefert.
Aber dazu muss man eines wissen: Brot von Erstlingsfrüchten trug man im alten Israel feierlich in den Tempel und überreichte es den Priestern. Das war ihr Lohn für ihre Gottesarbeit.
Im Buch Leviticus ist die Vorschrift festgehalten: „… Wenn ihr die Ernte einbringt, sollt ihr dem Priester die erste Garbe eurer Ernte bringen. Er soll sie vor dem Herrn hin- und herschwingen und sie so darbringen … Vor diesem Tag, bevor ihr eurem Gott die Opfergabe gebracht habt, dürft ihr kein Brot und kein geröstetes oder frisches Korn essen. Das gelte als feste Regel bei euch von Generation zu Generation überall, wo ihr wohnt“ (Lev 23,10f.14).
Genau das macht der Mann aus Baal Schalischa in unserer Geschichte. Nach der Vorschrift des Gesetzes bringt er dem Gottesmann Brot von Erstlingsfrüchten samt frischen Körnern in einem Sack. Normalerweise haben die Gottesmänner diese frisch gebackenen Brote, sowie die Kornsäcke angenommen, sie Gott symbolisch dargebracht – und dann als willkommenen Jahresvorrat in ihrem Haus gespeichert.
Normalerweise. Aber Elischa handelt anders. Und das ist das Wunder in dieser Geschichte. Einer, dem die Leute in Ehrfurcht begegnen; einer dem Brot und Getreide per Gesetz zustehen, verzichtet darauf – und teilt sein geschenktes Eigentum wieder aus.
Liebe Leser,
das wäre das eigentliche Wunder auf dieser Welt. Menschen, die ihr Eigentum als Geschenk empfinden – und deshalb wieder austeilen und anderen Menschen zugutekommen lassen. Menschen, denen auf Grund ihrer wichtigen Stellung viel zusteht, die aber ihr rechtmäßiges Eigentum wieder mit denen teilen, die es für sie erwirtschaftet haben.
Das wäre das eigentliche Wunder auf dieser Welt: Menschen, die deutlich spüren: Ich darf in einem privilegierten Beruf tätig sein. Im Vergleich zu den vielen, die ihr Brot durch harte Arbeit ihrer Hände verdienen, bin ich weit überbezahlt. Ich teile wieder aus, was andere für mich erarbeitet haben.

Fürbitten

Guter Gott, du hast uns die Welt mit ihren Schätzen geschenkt, damit alle Menschen daran teilhaben können. Wir bitten dich:

Wir beten für die Verantwortlichen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft: Dass nicht kurzfristiger Profit, sondern gerechte Verteilung der Güter und menschenwürdige Existenz aller das Ziel ihrer Arbeit ist

Wir beten für Kirchen und Religionen: Dass sie nicht nur von Solidarität und Gerechtigkeit reden, sondern sich darum bemühen, eine gerechtere Welt in deinem Geist zu gestalten

Wir beten für alle Menschen, für die jeder Tag ein Kampf ums Überleben ist: Dass ihre Not gesehen wird und sich Menschen und Gruppen finden, die sich für sie einsetzen

Wir beten für alle, die genug haben, aber immer Angst haben, dass es nicht reicht: Dass sie spüren, wie Gier ein gutes Zusammenleben von Menschen vergiftet und zerstört

Wir beten für unsere Verstorbenen: Dass wir ihnen dankbar sind, was sie uns im Leben Gutes getan haben

Herr, unser Gott, in den heutigen Schrifttexten wurde uns gezeigt, wie wertvoll geteiltes Leben ist. Lass auch uns das Geschenk des Teilens wertschätzen und weitergeben. Amen

Schlussgebet
(Papst Franziskus)

Gott der Liebe,
zeige uns unseren Platz in dieser Welt
als Werkzeuge deiner Liebe
zu allen Wesen dieser Erde,
denn keines von ihnen wird von dir vergessen.
Erleuchte, die Macht und Reichtum besitzen,
damit sie sich hüten vor der Sünde der Gleichgültigkeit,
das Gemeinwohl lieben, die Schwachen fördern
und für diese Welt sorgen, die wir bewohnen.
Die Armen und die Erde flehen.
Herr, ergreife uns mit deiner Macht,
um alles Leben zu schützen,
um eine bessere Zukunft vorzubereiten,
damit dein Reich komme,
das Reich der Gerechtigkeit und des Friedens,
der Liebe und der Schönheit.


Pfarrer Stefan Mai

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