Er muss wachsen, ich aber muss abnehmen

Predigt zu Johanni 2015

Ein Hausbesuch blieb dem lang gedienten Pfarrer unter den unzähligen, die er im Lauf seines langen Berufslebens machte, unvergesslich. Es war ein Besuch bei einem alten Ehepaar zum Diamantenen Ehejubiläum. Der Mann war zierlich, ja dünn geraten, ein „Spargel“ würden wir auf fränkisch sagen, die Frau dagegen von beachtlicher Statur, fast die doppelte Portion ihres Mannes. Sie baten den Pfarrer, Platz zu nehmen, und setzten sich ihm gegenüber auf das Sofa, zart der Mann, kräftig die Frau. Und als der Pfarrer im Gespräch aufschaute, sah er über den beiden, sorgfältig gestickt und gerahmt, das biblische Wort: „Er muss wachsen, ich aber muss abnehmen.“

Ein Schmunzeln konnte der besuchende Pfarrer so wenig unterdrücken wie Sie. Die beiden merkten dies und die proppe Frau meinte ebenfalls schmunzelnd: „Jaja, lieber Herr Pfarrer. Ich weiß schon, was sie denken. Die frisst dem armen Kerlchen alles weg.“ Schallendes Gelächter und gelöste Atmosphäre. Dann aber erzählten die beiden, dass sie dieses Stickbild mit dem Wort des Johannes des Täufers „Er muss wachsen, ich aber abnehmen“ zu ihrer Hochzeit geschenkt bekamen. Sie erzählten, dass dieses Johanneswort für sie ein Leitspruch für die Ehe war. Sie erzählten, dass sie manchmal auf dem Sofa unter diesem Bild das Gebet von Pierre Olivaint sprechen:

Wachse, Jesus, wachse in mir.
In meinem Geist, in meinem Herzen,
in meiner Vorstellung, in meinen Sinnen.
Wachse in mir in Deiner Milde,
in Deiner Demut, Deinem Eifer, Deiner Liebe.
Wachse in mir mit Deiner Gnade,
Deinem Licht und Deinem Frieden.
Wachse in mir zur Verherrlichung Deines Vaters,
zur größeren Ehre Gottes. Amen.


Den beiden war anzumerken: Das Wachsen, um das es ihnen ging, war ein geistliches Wachsen. Darum, dass sie in ihrem Leben und ihrem Verhalten zueinander versuchten, die Worte Jesu umzusetzen in ihr Leben. Sie wollten sich diesen Johannes zum Vorbild nehmen, der mit seiner Person und seinem Wesen ganz und gar auf diesen Jesus verweisen wollte.

Ob es uns gelungen ist, wissen wir nicht, meinten die beiden bescheiden. Wir wissen auch nicht, ob unser versuchtes Lebensbeispiel unsere Kinder und Enkel einmal animiert, dem Glauben an Jesus in ihrem Lebensprogramm einen festen Platz zu geben.

Aber der Pfarrer meinte an ihnen zu spüren, dass das Lebensprogramm, unter dem sie so oft in den 60 gemeinsamen Lebensjahren saßen, den Stil ihres gemeinsamen Lebens prägte.
Er meinte in ihrem Verhalten zueinander etwas zu spüren, von der Milde, von der Güte, von dem Frieden.

Nachdenklich ging er an diesem Abend nach Hause, schlug sein Gotteslob auf und suchte nach dem Gebet von Pierre Olivaint. An diesem Abend war es sein Abendgebet:

Wachse, Jesus, wachse in mir.
In meinem Geist, in meinem Herzen,
in meiner Vorstellung, in meinen Sinnen.
Wachse in mir in Deiner Milde,
in Deiner Demut, Deinem Eifer, Deiner Liebe.
Wachse in mir mit Deiner Gnade,
Deinem Licht und Deinem Frieden.
Wachse in mir zur Verherrlichung Deines Vaters,
zur größeren Ehre Gottes. Amen.


Pfarrer Stefan Mai

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