Der Dornengott

Predigt zum Karfreitag 2015

Es ist bei mir hängen geblieben, was ein Pfarrer über einen Biergartenbesuch erzählt: Ein erster warmer Frühlingstag. Die Sonne scheint, die Biergärten füllen sich. Man sitzt draußen, genießt die Wärme und vielleicht ein Bier.
Dazwischen ein junger Mann, Mitte zwanzig vielleicht, und mutig: statt dickem Hemd hat er nur ein ärmelloses T-Shirt an. Das gibt den Blick frei auf seinen Oberarm. Und dort sieht man ein Tattoo, eine Tätowierung. Es ist ein leidender Christuskopf mit Dornenkrone, alles schwarz gehalten, nur die Blutstropfen, die vom Kopf über das Gesicht rinnen, sind rot.
So mancher schaut hin, fragend, interessiert, irritiert. Einer traut sich dann zu fragen: „Was soll denn dieses Tattoo bedeuten?“ Ich sitze in der Nähe, und kann alles mitbekommen, höre genau hin, und bin gespannt. „So genau weiß ich das auch nicht“, sagt der junge Mann ruhig. „Ich bin nicht besonders religiös oder so, wenn Sie das meinen. Aber diesen Dornenmann finde ich gut. Das war irgendwie ein Gott oder Gottessohn, einer von denen da oben. Und trotzdem musste er einiges einstecken. Und er ist ganz ruhig geblieben. Ich habe auch einiges einstecken müssen, habe auch einiges auf den Kopf bekommen. Und als es mir so richtig dreckig ging, habe ich mir den Dornengott tätowieren lassen. Das hat wehgetan, auf der Haut, aber es war nicht so schlimm. Und jetzt ist es gut – der Dornengott passt zu mir. Er geht mit mir, ich mit ihm“.
Tätowieren ist heute in. Laut Umfrage sind ein Viertel der 25- bis 35-jährigen tätowiert. Was bringt diese jungen Leute dazu, sich
den Schmerzen des Tätowierens zu unterziehen? Es tut doch weh, es blutet, es kann sich entzünden, es bleiben Narben, Narben für immer. Scheinbar soll es unter die Haut gehen, was sie sich eintätowieren lassen.
Da lässt sich ein Manager einen Puma auf die Schulter tätowieren – und will sich damit andauernd selber sagen: Du bist ein Puma: Sprungbereit und bissig, wenn's um deine Sache geht.
Ein anderer hat am Puls den Namen seiner Freundin – und will ständig spüren: Du gehörst zu mir. Du bist mir hautnah.
Und da ist der junge Mann aus dem Biergarten mit dem Dornengott auf dem Oberarm. Rote Blutstropfen über dem leidenden Christuskopf. Der will sich ständig sagen lassen: So einer bin ich: Einer, der viel einstecken kann. Und der sich trotzdem nicht kleinkriegen lässt. Der noch im größten Elend Stärke zeigt. Und der stolz ist auf das, was ihm im Leben Wunden geschlagen, aber ihn nicht fertiggemacht hat.
Liebe Leser,
auch wenn dieser junge Mann am Karfreitag nie eine Kniebeuge vor dem Schmerzensmann gemacht hat, er scheint mir die Botschaft dieses Tages verstanden zu haben und die Weisheit der Kreuzenthüllung: Es steckt menschliche Größe in diesem Dornengekrönten. Der Blick in sein Gesicht kann dich stärken und dir sagen: Er geht mit dir.

Die Erzählung vom Dornenmann stammt von Pfr. Hans Jürgen Luibl, Erlangen.


Pfarrer Stefan Mai

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