Die Rollen werden erst kurz vor Ostern festgelegt

Predigt zum Gründonnerstag 2015

Einleitung

In jeder Gruppe gibt es bestimmte Rollen: in der Klasse das fleißige Mädchen, den Klassenkasper, den Schweiger. In Gremien den Vielredner, den Motzer, den Besserwisser und das stille Gänseblümchen.
Auch die Jünger im Abendmahlssaal legen wir auf bestimmte Rollen fest.
Ob die immer so stimmen?

Predigt

Gestern waren die zwölf Apostel bei mir zu Gast
Ich tischte alles auf
Was der Kühlschrank hergab
Sie müssen von sehr weit gekommen sein sie waren hungrig
Und durstig und auf ihren Mänteln
Klebte dicker Staub
Ich wollte wissen
Wer unter ihnen Johannes sei
Und wer Judas
Sie sagten sie übten noch
Die Rollen werden erst
Kurz vor Ostern festgelegt
(Horst Bienek, Wer antwortet wem? Gedichte, München 1991)

Ein seltsames Gedicht, das Horst Bienek da vor gut 20 Jahren verfasst hat. Er kennt die Apostel. Er weiß: Sie waren im Abendmahlssaal dabei. Es würde ihn interessieren: Wer ist wer? Wer ist der Böse? Wer ist der Gute? Er möchte wissen, wie alles damals gewesen ist. Und da machen ihm die Apostel einen Strich durch die Rechnung. Jeder, so sagen sie, kann Johannes sein, jeder Petrus – und jeder Judas. Wer wer ist, stellt sich erst heraus, wenn es ernst wird.
Die Lehre, die die Apostel von Horst Bienek erteilen, lautet: Sei dir nicht so sicher, wer du bist!
Wenn du meinst: Du bist so ein Johannes, so ein Lieblingsjünger, Jesus ganz nahe und seelenverwandt: Sei dir nicht so sicher!

Wenn du meinst: Du bist Petrus, der für seinen Herrn kämpfen will, eine Führungsnatur, die alles zusammenhält: Sei dir nicht so sicher!
Wenn du meinst: Du bist Philipppus, der einfach nichts versteht, obwohl er dauernd fragt.
Oder wenn du meinst: Du bist Jakobus, der aufbrausende Donnersohn.
Oder wenn du meinst: Du bist Thomas, der Ungläubige, der Zweifler, der einfach nicht glauben will, was alle glauben: Sei dir nicht so sicher!
Wenn du meinst: Der ist ein Judas, einer, der schnell die Seiten wechselt, der nichts mehr von dem wissen will, was ihm früher einmal wichtig war: Sei dir nicht so sicher!
Der Dichter Bienek behauptet: Die Rollen werden erst kurz vor Ostern festgelegt. Das heißt: erst dann, wenn es ernst wird. Und dann könnte es sein, dass ich mich selbst nicht mehr kenne, über mich und mein Verhalten erschrecke. Und es könnte sein, dass ich staune, wozu mancher, dem es nicht zugetraut hätte, doch fähig ist.
Liebe Leser, heute Abend sind die 12 Apostel bei uns nach alter Tradition zu Gast. Sie feiern mit uns Abendmahl. Das Wichtigste, was sie uns sagen, ist: Wir alle üben noch, Jesu Jünger zu sein. Niemand von uns weiß, wer welche Rolle bekommt. Niemand von uns weiß, ob er Petrus wird – oder Andreas, Jakobus, Johannes, Philippus,, Bartholomäus, Matthäus, Thomas, Jakobus der Jüngere, Taddäus, Simon oder gar Judas Iskariot.
Die Rollen werden erst festgelegt, wenn es ernst wird.

Fürbitten

Herr, unser Gott, die 12 Apostel mit ihren unterschiedlichen Rollen stehen uns heute vor Augen. Wir bitten dich:

Für alle, die ihre Rolle im Leben erst noch finden müssen: an ihrem Arbeitsplatz, in ihrer Partnerschaft, in einer Gemeinde...

Für alle, die – ohne dass sie es wollen – auf ihre Rolle festgelegt werden und nicht mehr davon loskommen ...
Für die Schauspieler, die sich in viele unterschiedliche Rollen einfühlen müssen...

Für alle, die überhaupt keine Rolle mehr im Leben spielen …
Für alle, die „von der Rolle sind“ und für verrückt eingestuft werden…


Pfarrer Stefan Mai

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