Die unbeantwortete Frage

Predigt zum 5. Sonntag im Jahreskreis (Ijob 7,1-4.6-7)

Einleitung
Klasse 3a. Im Klassenzimmer hängt vom Deutschunterricht ein großes Fragezeichen, ein Ausrufezeichen und ein Punkt. In Religion beschäftigen wir uns zur Zeit mit der Frage: Wie stellen wir uns Gott eigentlich vor? In der letzten Stunde nahm ich das große Fragezeichen in die Hand und bat die Kinder, ihre Fragen an Gott einmal aufzuschreiben. Im Stuhlkreis durfte dann immer ein Kind seine Frage stellen, ein anderes versuchte als „Gott“ darauf zu antworten. Da standen sie wieder im Raum: die großen Fragen nach dem Warum von Krankheit und Schmerz, nach dem Warum von Krieg und Leid. Und es wurde uns allen wieder bewusst, wie arm und klein unsere Antwortversuche auf diese großen Fragen der Menschheit sind.
Eigenartig: Wie früh diese schweren Fragen schon in den Kinderköpfen sind, die das Buch Ijob aus dem Alten Testament stellt.

Predigt
Ein schwach beleuchteter Konzertsaal. Auf der Bühne im Scheinwerferlicht vier Holzbläser. Im Pianissimo beginnt ein unsichtbares Streichorchester und spielt harmonische Akkorde, die sich immer wiederholen. Plötzlich von der Empore ein Trompetensignal: fünf fragende und klagende Töne. Zu den beruhigenden Streicherklängen setzen die vier Blasinstrumente ein und scheinen eine Antwort auf die Frage der Trompete zu versuchen. Aber ihr Spiel klingt chaotisch und bricht nach kurzer Zeit ab. Sechsmal wiederholt sich dieser Ablauf. Die siebte Frage der Trompete bleibt schließlich ohne Resonanz und die Streicherakkorde verklingen im Nichts.
„The Unanswered Question“ - „Die unbeantwortete Frage“ nennt der experimentierfreudige amerikanische Komponist Charles Ives sein Werk, das er 1906 geschrieben hat. Das Signal der Trompete ist für ihn „die ewige Frage der menschlichen Existenz“, die dahinfließenden leisen Streicherakkorde repräsentieren nichtssagende Floskeln, mit denen man die Frage zu beantworten sucht. Die vier Holzbläser stehen für die wenigen Menschen, die sich durch die Frage in Unruhe versetzen lassen – aber ihre Antwortversuche scheitern. Die Frage nach dem Sinn des Lebens, die Frage nach dem „Warum“ steht weiter im Raum ...
„Die unbeantwortete Frage“, eine aufrüttelnde und tiefsinnige Komposition, eine geniale Deutung unserer menschlichen Situation:
Wir fragen nach Sinn. Wir verstehen vieles nicht, was in unserem Leben geschieht. Wir wollen wissen: Warum gibt es Krankheit, Leid und Tod? Warum gibt es so viel Hass und sinnlose Kriege, unter denen Millionen unschuldiger Menschen leiden müssen. Warum sind die Güter auf unserer Welt so ungerecht verteilt? Warum gehört einem Prozent der Weltbevölkerung 99 Prozent des Reichtums dieser Erde? Warum? Warum? Warum? Die Fragereihe ließe sich noch lange fortführen.
Ich weiß nicht, ob der Komponist Charles Ives Bibelleser war und das Buch Ijob gekannt hat. Aber mir kommt vor, als habe er genau die Erfahrung dieses von Leid heimgesuchten Ijob in Töne umgesetzt. Ijob steht für alle Menschen, denen aus heiterem Himmel unbegreifliches Leid zustößt. Wie die Trompete in der Komposition von Charles Ives schmettert Ijob die Frage nach dem Sinn des Lebens Gott in immer neuen Anläufen entgegen: Welchen Sinn soll denn sinnloses Leid haben? Warum so viele Tage voller Enttäuschung? Warum so viele schlaflose Nächte? Warum so viel Mühsal, Angst und vergebener Kampf im Leben? Warum gibt Gott überhaupt das Leben, wenn es doch nur ein Hauch ist? Warum ist der allmächtige Gott so hilflos und tut scheinbar nichts?
Über 42 Kapitel hinweg wird in diesem Buch um die Antwort nach dem Warum des Leids gerungen.
Drei Freunde kommen zu Besuch und versuchen Ijob sein Leid zu erklären:
Gott ist allmächtig und verhängt das Leid.
Vielleicht ist dein Leid die Strafe für eine schwere Schuld, die du dir aufgeladen hast.
Vielleicht will dich Gott dadurch erziehen?
Und Ijob schmeißt die drei Freunde raus und wirft ihnen vor: Euer pastoraler Schmalz hilft mir nicht. Ihr seid theologische Quacksalber. Eure Antworten helfen mir nicht! Im Gegenteil, sie stürzen mich noch mehr in Verzweiflung.
Ijob möchte seine Unschuld in Stein meißeln. Er ist hin- und hergerissen: möchte leben und doch dann wieder lieber sterben. Möchte dieses ungerechten Gott loswerden und spürt zugleich: Ich komm doch nicht von ihm los. Er spürt: Ich kann die Frage nach dem Leid nicht lösen, fühle mich aber trotzdem wieder hingezogen zu Gott und erhoffe von ihm letzten Halt.
Liebe Zuhörer,
jeder Mensch wird im Laufe seines Lebens seine eigene Antwort auf die bedrängenden Warum-Fragen finden müssen. Das Ijob-Buch und die Komposition von Charles Ives sind solche Versuche. Mir hilft am meisten ein Satz von Karl Rahner: „Glaube heißt nicht anderes als die Unbegreiflichkeit Gottes ein Leben lang auszuhalten.“

Fürbitten
Herr, unser Gott. Auf die Frage nach dem Sinn des Leids findet kein Mensch eine befriedigende Antwort. Wir können das vielfältige Leid nur benennen und dich bitten:

V: Wende dich den Leidenden zu
A: Wende dich den Leidenden zu


- Wir klagen mit denen, die Opfer der Kriege und menschlicher Willkür geworden sind

- Wir klagen mit denen, die vertrieben wurden und ihre Heimat verloren haben

- Wir klagen mit denen, die die Ohnmacht ihrer schweren Krankheit aushalten müssen

- Wir klagen mit denen, die helfen möchten und dabei ihre Grenzen erfahren

- Wir trauern mit denen, deren Glauben an deine Güte zerbrochen ist

- Wir trauern mit denen, deren Liebe und Lebensgemeinschaft zerbrochen ist

- Wir trauern mit denen, die der Tod eines lieben Menschen einsam gemacht hat

- Wir trauern um unsere Toten, an die wir in diesem Gottesdienst denken


Pfarrer Stefan Mai

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