Mehr Wachstum!

Predigt zum Neujahrstag 2015 (Lk 2,16-21.39-40)

Einleitung
„Schneller, höher, weiter“ – war einmal das Motto der olympischen Spiele. Inzwischen ist dieses sportliche Motto zum Diktat der Wirtschaft geworden. Immer schneller die Arbeitsprozesse, immer schneller zum Erfolg, immer höher die Gewinne, immer weiter die Planung.
Ob wir uns das allerdings wünschen sollten?

Evangelium (Lk 2,16-21.39-40)
16 So eilten die Hirten hin und fanden Maria und Josef und das Kind, das in der Krippe lag. 17 Als sie es sahen, erzählten sie, was ihnen über dieses Kind gesagt worden war. 18 Und alle, die es hörten, staunten über die Worte der Hirten. 19 Maria aber bewahrte alles, was geschehen war, in ihrem Herzen und dachte darüber nach. 20 Die Hirten kehrten zurück, rühmten Gott und priesen ihn für das, was sie gehört und gesehen hatten; denn alles war so gewesen, wie es ihnen gesagt worden war. 21 Als acht Tage vorüber waren und das Kind beschnitten werden sollte, gab man ihm den Namen Jesus, den der Engel genannt hatte, noch ehe das Kind im Schoß seiner Mutter empfangen wurde.
39 Als seine Eltern alles getan hatten, was das Gesetz des Herrn vorschreibt, kehrten sie nach Galiläa in ihre Stadt Nazaret zurück. 40 Das Kind wuchs heran und wurde kräftig; Gott erfüllte es mit Weisheit, und seine Gnade ruhte auf ihm.

Predigt
Die deutsche Wirtschaft verliert an Fahrt. Sie soll laut den führenden Wirtschaftsforschungsinstituten in diesem Jahr nur noch 1,3 Prozent wachsen – deutlich weniger als bisher angenommen.
Vor einem halben Jahr hatten die Institute noch 1,9 Prozent Wachstum für 2014 und 2,0 Prozent Wachstum für 2015 prognostiziert.
Welch ein Jammer! Ein Jahr unter schlechten Vorzeichen!
Aber ausgerechnet ein renommierter britischer Wirtschaftsforscher, Professor der London School of Economics, Lord Richard, sieht die Sache ganz anders. Erst kürzlich hat er in der SZ ein Interview gegeben. Er fordert eine entschiedene Abkehr der Menschen von der Vorstellung, „dass die Ideale der Banker jene Ideale sind, denen auch der Rest der Gesellschaft folgen sollte“. Zwar sei er nicht gegen Wachstum, „aber“, so meint er, „ich bin absolut dagegen, riesige Opfer zu bringen, bloß um das Wachstum noch weiter zu erhöhen.“ Seiner Meinung nach sind für die Zufriedenheit des Menschen andere Dinge wichtiger als der Fetisch „Wachstum“.
Nur 1,3 % Wachstum des Bruttoinlandprodukts – welch ein Jammer!
Ich möchte den Spieß zu Beginn des Neuen Jahres einmal umdrehen: Welch ein Fortschritt wäre es, wenn wir – in ganz anderen Dingen – „nur“ 1,3% Wachstum anstreben.
1,3 % sind nicht viel, gerade mal 1,3 Cent von einem Euro. Aber wenn wir überall, überall wo es uns gut tut, solche 1,3 % zulegen würden, das wäre ein Jahr!
Stellen Sie sich einmal vor: In diesem Jahr – 1,3 % mehr Liebe zur Wahrheit, 1,3 % mehr Offenheit zueinander.
Und dann: 1,3 % mehr Ruhe. Wie schön wäre das für unsere Familien, in den Schulen und in den Betrieben. 1,3 %, das wären fast 4 Tage im Jahr. Die, richtig verteilt auf wirklich entscheidende Tage: Es wäre mehr Sonne im Leben und unter uns Menschen. Vier Tage Sonne machen viele Tage Kälte wett.
Und dann steigern wir unsere Zuverlässigkeit wenigstens um 1,3 %, unser Verantwortungsgefühl für unsere Gemeinden: 1,3 %.
Das wäre ein Jahr: 1,3 % in allem positiver, gläubiger, liebender, froher und zufriedener. Es wäre ein schönes Jahr. 1,3 % zum Guten, das ist doch nicht viel, das müsste eigentlich drin sein – gebe es Gott!
Nach einer Idee von Jörg Sieger.

Fürbitten
Herr, unser Gott, heute beginnen wir ein neues Jahr. Höre unsere Bitten:
- Wir beten für alle, die mit Schwung und Zuversicht ins Neue Jahr gehen …
Christus, höre uns – Christus, erhöre uns
- Wir beten für alle, die ängstlich und sorgenvoll in die Zukunft schauen …
- Wir beten für alle, die Pläne geschmiedet und sich große Ziele gesteckt haben …
- Wir beten für alle, die Verantwortung tragen für den Frieden der Welt …
- Wir beten für alle, auf die in diesem Jahr Schweres zukommt …

Erzählung nach der Kommunion
Ein Fischer sitzt am Strand und blickt auf das Meer, nachdem er die Ernte seiner mühseligen Ausfahrt auf den Markt gebracht hat. Warum er nicht einen Kredit aufnehme, fragt ihn ein Tourist. Dann könne er einen Motor kaufen und das Doppelte fangen. Das brächte Geld für einen zweiten Mann ein. Zweimal täglich auf den Fang hieße das Vierfache verdienen. Warum er eigentlich herumtrödle? Auch ein dritter Kutter wäre zu beschaffen; das Meer könnte viel besser ausgenützt werden. Ein Stand auf dem Markt, Angestellte, ein Fischrestaurant, eine Konservenfabrik – dem Touristen leuchteten die Augen – ” Und dann ?” unterbricht ihn der Fischer. “Dann brauchen Sie nichts mehr zu tun. Dann können sie den ganzen Tag sitzen und glücklich auf ihr Meer hinaus blicken!” – “Aber das tue ich doch jetzt schon”, sagt der Fischer.
(von H. Böll nach W. Hoffsümmer, 255 Geschichten, Nr. 222)


Pfarrer Stefan Mai

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