Erwarte vom Tag nicht, was nur Jahre geben können!

Predigt zum Silvesterabend 2014 (Ps 90; Mt 6,25-34)

Einleitung
Wieder ist ein Jahr vergangen. Es ist Silvesterabend. Vieles ist in diesem Jahr geschehen. Vieles hat sich ereignet. Um vieles haben wir uns bemüht. Vieles ist uns gelungen. Manches ist unerledigt geblieben. Auf manches sind wir stolz. Manches möchten wir am liebsten ungeschehen machen.
Ein Jahr geht zu Ende. Es ist Silvesterabend. Lasst uns Stille halten.
- Stille –

Gott, wir bitten dich: Erbarme dich unser.
Kyrie GL 161

Tagesgebet gemeinsam: GL 11,1 (J. Zink)

Lesung aus dem Buch der Psalmen (Ps 90)
Ehe die Berge geboren wurden, / die Erde entstand und das Weltall, bist du, o Gott, von Ewigkeit zu Ewigkeit. 3 Du läßt die Menschen zurückkehren zum Staub und sprichst: «Kommt wieder, ihr Menschen!» 4 Denn tausend Jahre sind für dich / wie der Tag, der gestern vergangen ist, wie eine Wache in der Nacht. 5 Von Jahr zu Jahr säst du die Menschen aus; sie gleichen dem sprossenden Gras. 6 Am Morgen grünt es und blüht, am Abend wird es geschnitten und welkt.
10 Unser Leben währt siebzig Jahre, und wenn es hoch kommt, sind es achtzig. Das Beste daran ist nur Mühsal und Beschwer, rasch geht es vorbei, wir fliegen dahin. 11 12 Uns're Tage zu zählen, lehre uns! Dann gewinnen wir ein weises Herz. 13 Herr, wende dich uns doch endlich zu! Hab Mitleid mit deinen Knechten! 14 Sättige uns am Morgen mit deiner Huld! Dann wollen wir jubeln und uns freuen all unsre Tage. 15 Erfreue uns so viele Tage, wie du uns gebeugt hast, so viele Jahre, wie wir Unglück erlitten. 16 Zeig deinen Knechten deine Taten und ihren Kindern deine erhabene Macht! 17 Es komme über uns die Güte des Herrn, unsres Gottes. / Laß das Werk unsrer Hände gedeihen, ja, laß gedeihen das Werk unsrer Hände!

Predigt
Zwei Gestalten leben in mir. Die eine ist ein Schnellschießer. Sie nimmt sich vor: Heute steht das und jenes auf dem Programm. Bis Mittag habe ich das geschafft! Dann gilt es noch dies zu erledigen. Dafür nehme ich mir zwei Stunden Zeit. Dann kommen noch ein paar Kleinigkeiten dran, bevor die letzte große Aufgabe angepackt wird.
Und am Abend ist sie dann enttäuscht. Wieder das gesteckte Ziel nicht erreicht. Da war die Zeit zu knapp. Dort kamen Schwierigkeiten dazwischen. Und die Leute haben nicht so funktioniert, wie ich mir das vorgestellt habe. Zurück bleibt: Enttäuschung. Ein verpatzter Tag.
Und es gibt die andere Gestalt in mir, den Auf-die-lange-Bank-Schieber: Morgen, morgen, nur nicht heute, sagt er. Oder: Das packe ich im nächsten Jahr an. Aber weder morgen noch im nächsten Jahr passiert irgendetwas. Und das alte Sprichwort hat wieder einmal recht: Des Teufels liebstes Möbelstück ist die lange Bank.
Vor ein paar Tagen ist mir ein Ausspruch von Johann Michael Sailer in die Hände gefallen. Er hat von 1751-1832 gelebt und war am Ende seines Lebens Bischof von Regensburg. Sein Ausspruch lautet:
Erwartet vom Tag nicht,
was nur Jahre geben können!
Vergesst aber nicht,
dass Jahre aus Tagen bestehen.
Und bleibt bei dem Entschluss,
keinen Tag unbenutzt vorbeigehen zu lassen.

Ich glaube, Bischof Sailer könnte mit seinem Spruch beiden Gestalten in mir etwas Wichtiges sagen:
Dem Schnellschießer, der ruckzuck alles an einem Tag erledigen möchte, ohne mögliche Schwierigkeiten oder Widerstände einzukalkulieren – ihm sagt Bischof Sailer: Nicht einmal der liebe Gott hat die Welt an einem einzigen Tag erschaffen. Überschätz‘ dich nicht! Sei vernünftig! Pack nicht zu viel in den Tag hinein. Was ein Programm für eine Woche ist, lässt sich nicht an einem einzigen Tag erledigen. Es ist schon genug, wenn es jeden Tag einen kleinen Fortschritt gibt. Schau vielmehr auf das, was du erreicht hast und was dir gelungen ist – und starre nicht auf das, was liegen geblieben ist.
Dagegen würde er dem Auf-die-lange-Bank-Schieber sagen: Wenn du nicht heute anfängst, fängst du nie an. Morgen, morgen, nur nicht heute, sagen alle faulen Leute. Wichtig ist es, mit dem Anfang von etwas Neuem sich selbst ein Signal zu geben, sich selbst einen Impuls zu setzen, der dich dann mitreißt. Du wirst sehen, wenn du den ersten Schritt geschafft hast, dann setzt das Energie frei, die dich am Ball bleiben lässt.
Liebe Leser,
am Ende dieses Jahres wäre es einmal eine Gewissensfrage: Welche der beiden Figuren, der Schnellschießer oder der Auf-die-lange-Bank-Schieber hat in mir momentan das Sagen? Welcher der Ratschläge von Bischof Sailer wäre für mich morgen, am ersten Tag des neuen Jahres, dran?
Erwartet vom Tag nicht,
was nur Jahre geben können!
Vergesst aber nicht,
dass Jahre aus Tagen bestehen.
Und bleibt bei dem Entschluss,
keinen Tag unbenutzt vorbeigehen zu lassen.

Schlussgebet gemeinsam: GL 11,3 von Grün)


Pfarrer Stefan Mai

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