Eine feindliche Übernahme

Predigt zum 2. Adventsonntag 2014 (Mk 1,1-8)

Einleitung

Wenn ich mir einen Roman aussuche, lese ich nicht nur den Klappentext, sondern vor allem den Anfang der Geschichte. Im Grunde entscheidet der erste Satz alles: Lockt er mich zum Weiterlesen, dann kaufe ich mir den Roman. Ist der erste Satz langweilig, lege ich das Buch gleich weg.
Das war in der Antike nicht anders. Der erste Satz musste sitzen. Und das gilt auch fürs Markusevangelium, aus dem wir im folgenden Jahr Sonntag für Sonntag einen Abschnitt hören werden – heute den Anfang.
Damalige Leser und Hörer hat er ganz sicher neugierig gemacht. Denn Markus lässt in der ersten Zeile ein Schlagwort hören, das alle stutzig machen musste – damals!

Predigt

„Evangelium“ – ein kirchlich sozialisierter Mensch denkt bei diesem Wort sofort an Gottesdienst und die Verlesung des heiligen Textes. Katholiken sehen einen Diakon oder Priester vor sich, wie er das Evangeliar feierlich zum Ambo trägt; sie hören den Hallelujagesang und riechen förmlich den Weihrauchduft, der bei Festgottesdiensten die Worte des Evangeliums umweht.
Das war bei den Ersthörern des Markusevangeliums anders. Wenn sie das Stichwort „Evangelium“ hörten, witterten sie Neuigkeiten aus dem Kaiserhaus in Rom: Thronbesteigung eines neuen Kaisers, seine Genesung nach langer Krankheit, Geburt oder Mündigkeitserklärung des Thronfolgers.
Am Ende des Jahres 69 n. Chr., also kurz vor der vermutlichen Abfassungszeit des Markusevangeliums, machten ganz besondere „Evangelien“ von sich reden. Sie wurden vom Osten in den Westen und von Rom in den Osten von Stadt zu Stadt weitergesagt: Vespasian, Truppengeneral in Palästina, ist vom Senat als Kaiser des Römischen Reiches bestätigt worden. Und das war tatsächlich eine Botschaft, die aufschnaufen ließ: Die bürgerkriegsähnlichen Wirren, die seit dem Selbstmord Neros 68 n. Chr. herrschten, waren endlich vorbei.
Der jüdische Historiker Josephus Flavius schreibt in seinem Werk Der Jüdische Krieg: „… Schneller als der Flug des Gedankens verkündigten die Gerüchte die Botschaft vom neuen Herrscher über den Osten, und jede Stadt feierte die „euangelia“, die guten Nachrichten …“ Oder: „Als Vespasian in Alexandrien angekommen war, trafen gerade die guten Nachrichten (euangelia) von Rom ein, dazu Gesandtschaften aus allen Teilen der ihm zu eigen gewordenen Welt, die ihm Glückwünsche überbrachten“ (4,618.656).
Das Evangelium von der Machtergreifung Vespasians – eine Erfolgsnachricht, die um die Welt läuft.
Das Markusevangelium greift in seiner ersten Zeile diesen Slogan vom „Evangelium“ bewusst auf: „Anfang des Evangeliums von Jesus Christus...“ das sind die ersten Worte des Markusevangeliums. Es handelt sich salopp gesagt um eine feindliche Übernahme des politisch geprägten Begriffs „Evangelium“. Denn das Markusevangelium interpretiert diesen Begriff „Evangelium“ um. Es erzählt nicht von einem Aufsteiger, der sich mit eiserner Hand hochgearbeitet hat, und dabei über Leichen gegangen ist. Es erzählt von einem Absteiger, der ein Auge für die Außenseiter und die Kranken am Weg hat – und der am Ende scheinbar selbst am Kreuz scheitert.
Das Evangelium nach Markus ist nicht wie die kaiserlichen Evangelien das Demonstrieren von Stärke und Macht, das Evangelium, das Markus in die Welt hinaustragen will ist der Traum von einer anderen Welt, in der nicht groß ist, wer auf andere herunterschaut; nicht stark, wer andere kleinmacht; in der nicht zählt, wer sich selbst Einfluss verschafft, sondern wer anderen zum Leben hilft. Und diesen Traum lebt Jesus vor: Er geht auf den Aussätzigen zu, vor dem alle nur ausreißen. Am Sabbat stellt er den Mann mit der gelähmten Hand in die Mitte der Synagoge – und macht damit klar:


Das ist das Zentrum, der Mensch, der Hilfe braucht – und nicht religiöse Vorschriften. Er setzt sich mit den Zöllnern an einen Tisch und stellt mit diesen verpönten Leuten Gemeinschaft her, mit denen die streng Religiösen partout nichts zu tun haben wollen.
Und Jesus macht eines klar: Ich träume davon, dass die Größe eines Menschen nicht nach Erfolg und Karriere bemessen wird, sondern danach, ob ein Mensch andere mitgetragen hat, ihnen zu Diensten war.
Liebe Leser,
vielleicht spüren Sie: das Markusevangeliums ist Oppositionsliteratur, eine Gegeninszenierung zu gesellschaftlichen und politischen Trends. Eine Infragestellung gängiger Weltanschauung. Propaganda für ein anderes Lebensprogramm. Und es will eines deutlich machen: Wer den Weg Jesu in diesem Evangelium als Richtschnur nimmt, wird – mit weltlichen Augen gesehen – vermutlich wenig Erfolg haben, ja vielleicht sogar scheitern wie Jesus, aber er kann sagen: Ich habe den Traum von einer menschlichen Welt mitgeträumt und für seine Verwirklichung Kräfte eingesetzt. Und er darf darauf hoffen, dass Gott einmal diese Lebensweise als die einzig richtige bestätigen wird, wie er es durch die Auferweckung des scheinbar gescheiterten Gekreuzigten getan hat.

Fürbitten

Was Jesus im Markusevangelium sagt, sind Sätze, die auch in unserem Leben Geltung haben möchten. Sie sind Impulse und Orientierungshilfen auf unserem Lebensweg. Wir hören jetzt markante Sätze aus seinem Evangelium und bitten Gott, dass diese Worte in unserem eigenen Leben Hand und Fuß bekommen.

L1: Und die Menschen waren sehr betroffen von seiner Lehre, denn er lehrte sie wie einer, der Vollmacht hat, nicht wie die Schriftgelehrten. (Mk 1,22)
L2: Gott, wir bitten dich: Schenke uns immer wieder Augenblicke, in denen uns ein Wort aus dem Evangelium trifft, zu Herzen geht oder zum Nachdenken bringt.

L 1: „Was haben wir mit dir zu tun, Jesus von Nazareth?“ (Mk 1,24), fragt laut ein besessener Mann in der Synagoge von Kafarnaum.
L 2: Gott, gib, dass uns im Leben diese Frage begleitet: Hat unser Lebensstil mit dem Lebensstil Jesu zu tun? Kann sich unser Verhalten an seinen Worten messen?

L 1: In aller Frühe, als es noch dunkel war, stand er auf und ging an einen einsamen Ort, um zu beten (Mk 1,35)
L 2: Gott, lass uns spüren, dass uns ein Gebet oder das Lesen eines guten Wortes anders und ruhiger den Tag beginnen lässt.

L 1: „Niemand näht ein Stück neuen Stoff auf ein altes Kleid ... Auch füllt niemand neuen Wein in alte Schläuche ...“ (Mk 2,21-22)
L 2: Gott, schenke deiner Kirche neben dem Bewahren von alten Traditionen auch den Mut zu neuen Wegen!

L 1: „Wenn einer Ohren hat zum Hören, so höre er!“ (Mk 4,23)
L 2: Gott, schenke uns Ohren, die hinter den vielen Wörtern das entscheidende Wort heraushören, und schenke uns Ohren, die zuhören können.

L 1: Da fragte er sie: „Ihr aber, für wen haltet ihr mich?“ (Mk 8,28).
L 2: Gott, lass uns zeigen können, dass uns der Glaube an Jesus im Leben wichtig ist und dass er uns im Leben auch hält und trägt.

L 1: Sie kamen nach Kafarnaum. Als er dann im Haus war, fragte er sie: „Worüber habt ihr unterwegs gesprochen?“ Sie schwiegen, denn sie hatten darüber gesprochen, wer von ihnen der Größte sei. Da setzte er sich, rief die Zwölf und sagte zu ihnen: „Wer der Erste sein will, soll der letzte und Diener aller sein!“
L 2: Gott, schenke uns ein Gespür dafür, dass die Größe eines Lebens nicht im Ansehen und Erfolg liegt, sondern darin, ob wir für Menschen im Leben eine Hilfe und Stütze waren.

L 1: Den Frauen, die Jesus im Grab suchen, wird gesagt: „Ihr sucht Jesus von Nazareth, den Gekreuzigten. Er ist auferstanden!“
L 2: Gott, schenke allen, die in ihrem Leben Jesus und seinen Worten vertraut haben, die Erfüllung ihrer Hoffnungen.


Pfarrer Stefan Mai

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