Ägid - Eine besondere Adventsgestalt

Predigt zum 1. Advent 2014 (Mk 13,33-37)

So manches Mal muss ich an meinen inzwischen verstorbenen alten Werktagsküster Ägid in Schweinfurt, St. Maximilian Kolbe, denken. Über die vielen Jahre hinweg immer der gleiche Ritus: Wenn ich meiner Gewohnheit nach eine Viertel Stunde vor Gottesdienstbeginn in die Kirche ging, die Kirchentür aufmachte, Weihwasser am schön gestalteten Taufstein nahm und mich dann in Richtung Sakristei begab, war die Sakristeitür schon immer einen kleinen Schlitz weit geöffnet. Einen Meter vor der Tür musste ich schon schmunzeln. Denn hinter dem Schlitz sah ich bereits das runde, rote Gesicht von Ägid mit der dicken Brille neugierig spitzen. Das war der Moment, als ob ein automatischer Türöffner die Sakristeitür aufmacht und mich mein Ägid mit einem verschmitzten Lächeln im Gesicht und einem lauten „Guten Morgen, Herr Dechant“ begrüßte.

Auf dem Hintergrund dieses Türrituals hat das heutige Türhütergleichnis für mich eine besondere Adventsnote. Ägid ist für mich eine Adventsgestalt.
Viele berührt der Ruf unangenehm: „Seid wachsam! Denn ihr wisst nicht , wann der Hausherr kommt, ob am Abend oder um Mitternacht, ob beim Hahnenschrei oder erst am Morgen. Er soll euch, wenn er kommt nicht schlafend antreffen!“ Viele erblicken in diesen Worten den Tod, der plötzlich und jeder Zeit vor unserem Lebenshaus stehen kann.

Mein Türöffner Ägid lässt mich diesen Ruf zur Wachsamkeit anders verstehen.
Seid wachsam!, sagt er mir, heißt: Seid aufmerksam! Begegnet den Menschen mit großer Achtsamkeit. Seid sensibel für die Untertöne in ihrer Stimme, für die unbewussten Signale der Körpersprache, für manchen verborgenen Lebenswunsch.
Seid wachsam!, das heißt: Seid den Menschen zugewandt. Wie gut tun doch einfühlsame Menschen. Menschen, die ganz natürlich auf einen zugehen, ein Stück weit mitfühlen können.
Seid wachsam!, das heißt: Seid entgegenkommend. Wie gut, wenn ich erleben darf: Da öffnen Menschen in einer Begegnung ihre Lebenstür, lassen mich eintreten in ihr Lebenshaus, verbreiten eine wohltuende und friedliche Atmosphäre.

Mein alter Küster Ägid ist für mich eine Adventsgestalt, die mir eine einfache und doch so wichtige Botschaft mit auf den Weg gibt:
Menschen, die aufmerksam und mit großer Achtsamkeit, den Menschen zugewandt und entgegenkommend ihr Leben gestalten, sind für unsere Welt eine große Bereicherung. Sie machen diese Welt heller, freundlicher und wärmer.

Und er ist für mich auch ein Bild einer letzten großen Hoffnung: Dass der Hausherr mich selbst einmal so freundlich empfangen wird, wenn ich durch das letzte Tor des Lebens hindurchgehe.


Pfarrer Stefan Mai

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