Wer singt heute noch?

Predigt zum Cäcilienfest 2014 in Gerolzhofen

Wo wird heute noch gesungen?
Natürlich in Gesangsvereinen, Schul- und Kirchenchören.
Samstag für Samstag in den Stadien der Bundesliga. Beim FC Liverpool gibt es sogar den Spruch: “They only win, when we are singing!“ - “Sie gewinnen nur, wenn wir singen!”
Es wird noch in den Altenheimen mit den Demenzkranken gesungen, weil dies oft bei ihnen die Lieder der Kindheit in Erinnerung ruft und sie dabei plötzlich hellwach sind.
Mancher Lehrer oder Lehrerin hält noch etwas vom Singen, wenn auch in den Grundschulen - im Vergleich zu meiner Volksschulzeit - der Gesang von jungen unverbrauchten Kinderstimmen immer seltener und leiser zu hören ist.
Nicht zu vergessen: Wir singen noch in unseren Kirchen, auch wenn hier stetig die Sangesfreudigkeit abnimmt. „Mama, sing nicht so laut, das ist doch peinlich!“, so erzählt Margot Käßmann, mit diesen Worten hat sie ihre Tochter ermahnt, als sie mit voller Brust bei einem Gottesdienst in ihrer Ecke fast allein mitgesungen hat.

Allgemeingut ist Singen heute nicht mehr. Es verschwindet auch bei uns in der Kirche immer mehr. Mir ist dies heuer am Allerheiligenabend daheim in Üchtelhausen so bewusst geworden. Früher war es für mich mit einem Gänsehautgefühl verbunden, wenn alle am Abend vor den Gräbern den Rosenkranz miteinander gebetet und zwischendrin die Strophen von „Preis dem Todesüberwinder“ laut geschmettert haben. Meine erwachsenen Nichten und Neffen haben mich groß angeschaut, als ich sie dann fragte, ob sie ihr „Maul“ daheim vergessen hätten.

Vor einiger Zeit titelte der Spiegel „Das Jaulen der Trauerklöße. Die Deutschen verlernen das Singen.“ So wunderbar viele Menschen in Chören singen und auch musizieren - Allgemeingut ist Singen nicht mehr. Musik wird zwar in Dauerberieselung gehört, aber aktives Singen ist out. Inzwischen wird darauf hingewiesen, dass die Folge verkümmerter Stimmbänder bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland messbar sind
Die hl. Cäcilia, Patronin der Kirchenmusik – lässt mich heute wieder einmal darüber nachdenken, was mir das Singen im Gottesdienst und unsere Kirchenlieder bedeuten. Dazu möchte ich Ihnen einfach ein paar Erlebnisse erzählen.

Nach meiner Primiz in der eiskalten Dorfkirche im Februar 1983 erhielt ich von fremden Menschen einen Brief. In ihm stand: „Wir haben aus Neugier Ihren Primizgottesdienst in Üchtelhausen besucht. Uns ging ein Schauer über den Rücken, wie Ihre Heimatgemeinde in das Lied ‚Großer Gott, wir loben dich‘ eingefallen ist und mit welcher Inbrunst es Menschen gesungen haben. Da hat man etwas von der Größe Gottes gespürt.“

Oft muss ich an meinen Onkel Leo erinnern, den man immer laut in der Kirche hat singen hören. Bei seiner Beerdigung habe ich bewusst die Liedstrophe ausgewählt habe: „Dankt unserm Gott, lobsinget ihm, rühmt seinen Namen mit lauter Stimm; lobsingt und danket allesamt, Gott loben, das ist unser Amt.“ Ich hab ihn immer noch vor Augen, wie er bei der Beerdigung seiner 35-jährigen Frau mit seinen drei Kindern hinter dem Sarg hergegangen ist und voller Überzeugung gesungen hat: „Ich bin die Auferstehung und das Leben.“

Ich werde den Abend nie vergessen, wie ich mit einer Familie in der Intensivstation des Leo in Schweinfurt am Bett eines hirntoten 16-jährigen Jugendlichen stand, der die große Hoffnung der Familie war. Die Eltern hatten einer Organentnahme zugestimmt. Mitten in das Schluchzen und in die ohnmächtige Stille hinein bat mich die Mutter: „Herr Pfarrer, singen Sie uns bitte das Lied vor: Von guten Mächten treu und still umgeben, behütet und getröstet wunderbar!“
Alle nahmen sich an den Händen und wir durften spüren, welchen Halt diese Melodie und diese Worte in aller Ohnmacht gaben.

Oder erst kürzlich in der Geomedklinik bei einer Krankensalbung. Ich fragte den alten Mann, welches Lied ist Ihr Lieblingslied. „ Alles meinem Gott zu Ehren, in der Arbeit in der Ruh. Alles meinem Gott zu Ehren alle Freude alles Leid“, kam spontan als Antwort. Und ich spürte, mit diesem Lied hat der Mann noch einmal seine Lebenshaltung gebündelt.

So manches Mal muss ich an meinen „Suffkopf“ Fritz, den Totengräber aus einer früheren Pfarrei denken. Viele Spirenzchen hat er am Grab vollführt, manchmal ist er fast mit ins Grab gefallen. Nach einer Beerdigung nahm er mich einmal beiseite und meinte: „Pfarrer, du siehst mich nie in der Kerch, aber gläb mers, jed´s Mal, wenn die Kreuzbergwallfahrer oben aus´n Wald kumma und des Liad singa ‚Führt er dich auch raue Wege, sendet er dir Leiden zu, treffen dich auch harte Schläge, deine Seele bleib in Ruh‘, da steh ich unten am Barch und sing mit“. Und ich spürte, wie diese Worte einem Mann helfen, sein schweres Leben zu bestehen.

Ich denke an Marietta, die mit ihrer schönen Stimme bei der Trauung solo ihr Lieblingslied sang: „Ich lobe meinen Gott von ganzen Herzen“ und damit ihre Freude und ihren Dank gegenüber Gott zum Ausdruck bringen wollte.

Und ich entdecke mich selbst, wie ich das neue Lied im diözesanen Anhang „Sing, sing, sing, singt dem Herrn ein neues Lied! Preist ihn laut, denn der Herr ist wunderbar“ nicht leise singen kann und ich es als großen Auftrag verstehe, sein Lob in eine Gott verschlafene Gesellschaft hineinzusingen.

Liebe Leser,
vielleicht spüren Sie an diesen wenigen Beispielen, was das Singen von Kirchenliedern für Menschen bedeuten kann: Lieder schenken Heimat, Trost, sie drücken Urvertrauen aus, lassen hoffen gegen alle Hoffnung und Absurditäten dieser Welt, lassen von Gott etwas fühlen. Im Singen kann Glauben wachsen. Ich stimme einem Fulbert Steffensky zu, der einmal gemeint hat:
„Wir singen die Lieder und schreiben die eigenen Wünsche und Hoffnungen ein in die großen Gedichte von anderen Generationen.
Wir lassen ihnen ihre Fremdheit und nehmen teil an einer alten Wahrheit; an der Wahrheit ihres Hungers nach Gott, nach Hoffnung, nach Schönheit. Wir sind Gast dieser Lieder. ...
Wir lassen uns von ihnen in den Glauben unserer Väter und Mütter ziehen. Wir müssen sie nicht mit uns selber füllen, mit unserem eigenen kläglichen Geist und Glauben. Sie ziehen uns, die Fremden, in den großen Strom des Glaubens...«


Während der Kommunion

Vor der Einführung des Neuen Gotteslobs wurden Prominente nach ihrem Lieblingskirchenlied gefragt. Hören wir heute bei der Kommunion einige Stimmen dieser Befragung und lassen die Melodie der Kirchenlieder auf uns wirken:

Andrea Nahles, Bundesministerin für Arbeit und Soziales:
Mein Lieblingslied im neuen Gotteslob
O Jesu, all mein Leben bist Du. Zugegeben, es ist ein Bekenntnis in tiefem Moll.
Aber genau diese traurige Melodie hat mich seit meiner Kindheit getröstet, das erste Mal, als meine Oma 1978 gestorben ist. Das Lied lässt Trauer und Traurigkeit zu – und vermittelt doch die Zuversicht, dass der Glaube an Jesus Christus stärker ist und trägt.


Orgel spielt Lied Gl 377 an

Rupert Neudeck, Gründer des Not-Ärzte-Komitees Cap Anamur:
Mein Lieblingslied im neuen Gotteslob
Wer nur den lieben Gott läßt walten. "Das ist das schönste und tröstlichste Lied, es hat noch die Gnade der kongenial-tröstlichen Melodie. Ich fühle mich immer den Tränen nahe, wenn wir es in unserer Pfarrkirche singen.


Wolfgang Thierse, SPD-Politiker. Von 1990 bis 2013 war er Mitglied des deutschen Bundestags:
Mein Lieblingslied im neuen Gotteslob
Nun danket all und bringet Ehr - "Der große Paul Gerhardt hat dieses Lied 1647 geschrieben, nach viel persönlichem Leid und angesichts der Verwüstungen durch den Dreißigjährigen Krieg:
Und dann ein solcher Text von geradezu trotziger Hoffnung und Ermutigung! Welch' munteres Lied des Lobes und der Bitte zugleich! Man kann, ja man muss es regelrecht schmettern. Es hebt die Stimmung der gelegentlich müden Gemeinde und überwindet den jammernden Kammerton, der mich immer wieder stört."


Orgel spielt Lied 403 an

Notburga Heveling, Vorsitzende des Diözesankomitees der Katholiken:
Mein Lieblingslied im neuen Gotteslob
Meine Zeit steht in deinen Händen - Das Lied „Meine Zeit steht in deinen Händen“ gehört schon einige Jahre zu meinen Lieblingsliedern,
Es ist kein „Schmetterlied“, sondern ein Lied für die eher nachdenklichen Zeiten, für Zeiten, in denen ich das Gefühl habe, im Alltagstrubel nicht mehr zu wissen, wo mir der Kopf steht, und ich mir nicht mehr sicher bin, worauf ich bauen kann und was meine Haltepunkte sind.
Wenn sich dieses Gefühl einstellt, merke ich oft, dass ich unwillkürlich den Kehrvers dieses Liedes singe, manchmal nur innerlich. Dann schenkt mir das Lied Gelassenheit und neue Kraft, weil es es mir gelingt ruhig zu werden, mich geborgen zu fühlen und mir sicher zu sein, dass mein Herz in Gott festgemacht ist.


Orgel spielt Lied Gl 818 an

Claudia Nothelle, Programmdirektorin des Rundfunk Berlin-Brandenburg:
Mein Lieblingslied im neuen Gotteslob
Nun danket all und bringet Ehr "... und werf all Angst, Furcht, Sorg und Schmerz in Meerestiefen hin.'
Mich begleitet die dritte Strophe von 'Nun danket all und bringet Ehr' seit Jahren, seit Jahrzehnten. Mir gefällt die Vorstellung: Ängste und Sorgen, die mir wie ein Stein vom Herzen fallen und in der Unendlichkeit des Meeres verschwinden. Und mich trägt die Zuversicht: in Gottes Geborgenheit brauche ich keine Angst, keine Sorgen zu haben. Vielmehr schenkt er „ein fröhlich Herz“. Das Lied macht mir Hoffnung, gerade wenn Angst, Furcht, Sorg und Schmerz einfach nicht in den Meerestiefen verschwinden wollen."


Orgel spielt Lied Gl 403 an

Günther Jauch
Mein Lieblingslied im neuen Gotteslob
"Mein Lieblingslied war schon als Ministrant 'Ein Haus voll Glorie schauet'. Es vermittelt Kraft und Zuversicht und ermunterte den Organisten unserer Pfarrei, immer besonders dynamisch in die Tasten zu greifen und zu treten.“


Orgel spielt Lied Gl 478 an

Winfried Kretschmann, Ministerpräsident von Baden-Württember:
Mein Lieblingslied im neuen wie auch schon im alten Gotteslob ist "Nun danket alle Gott"
Denn das Lied erinnert uns daran, dass wir uns jederzeit von Gott geliebt wissen dürfen. Es beschreibt die drei wichtigen Grundhaltungen vor Gott: Danken, Bitten und Loben. Es ist für mich ein nachhaltiges Lebenslied.


Orgel spielt Lied Gl 405 an

Matthias Matussek, Redakteur beim Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“:
Ich war auf dem Internat in Bad Godesberg. Da war die Maßgabe: Wenn wir „Großer Gott“ singen, dann muss das der liebe Gott wirklich hören. Da haben dann 700 Knaben aus vollen Leibeskräften „Großer Gott“ gebrüllt. Das war bis nach Bad Godesberg hinein zu hören.

Orgel spielt Lied Gl 380 an


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