Welches Gesicht bekommen zukünftig unsere Friedhöfe?

Ansprache zum Totengedenken 2014 auf dem Gerolzhöfer Friedhof

Es war einmal in unseren ländlich geprägten Gegenden selbstverständlich, dass fast täglich einer aus dem Haus auf den Friedhof ging, nach den Blumen schaute und sie goss, Unkraut zupfte, das Grab der alten alleinstehenden Tante oder der Nachbarn, deren Kinder nicht mehr da wohnten, besuchte.
Es war einmal in unseren Gegenden selbstverständlich, dass am Allerheiligennachmittag die meisten aus allen Windrichtungen die Gräber ihrer Vorfahren auf dem Heimatfriedhof besuchten, über den Friedhof gingen, die Gräber der Verwandten oder Schulfreunde aufsuchten. Beim anschließenden Kaffee im Elternhaus wurden Erinnerungen über die Toten ausgetauscht, Anekdoten über sie erzählt, gelacht und manchmal auch geweint.
Es war einmal, dass die Belegzeiten der Gräber wie selbstverständlich immer verlängert wurden, ohne viel darüber nachzudenken, irgendwie aus dem Bauchgefühl heraus: Heimat ist dort, wo wir auch die Namen der Toten kennen.

Wer heute über den Gerolzhöfer Friedhof geht, dem fällt eines auf: Immer mehr Gräber werden aufgelassen. Um der Verwahrlosung der Grabstätten Einhalt zu bieten, werden sie mit einer Kiesschicht überzogen.

Der Friedhof ist ein Spiegelbild der Gesellschaft, die mobil geworden ist. Die immer mehr geforderte und gelebte Mobilität verändert auch zwangsläufig das Gesicht unserer Friedhöfe.
Bei den vielen Altengeburtstagen, zu denen ich unterwegs bin, höre ich oft die Sorge alter Menschen: Wo und wie soll ich mich einmal beerdigen lassen? Von unseren Kindern ist keines mehr hier. Sie wohnen mit ihren Familien weit weg, haben dort eigene Häuser. In unser Haus kommt einmal keines von ihnen zurück. Wer soll dann einmal unser Grab pflegen?

Ganz unabhängig von der Frage, wieviel Mobilität der Mensch wirklich verträgt, wie heute vom Menschen verlangt wird. Ganz unabhängig von der Frage, wo und wie ist überhaupt noch Beheimatung in einer mobilen Gesellschaft möglich: In Zukunft werden wir aufgrund der Veränderungen in unserer Gesellschaft auch einer ganz grundsätzlichen Frage stellen müssen: Welches Gesicht sollen in Zukunft unsere Friedhöfe einmal haben? Unser Gerolzhöfer Friedhof wird in 50 Jahren anders ausschauen als er heute ist!

Für mich ist der Friedhof nicht in erster Linie ein Ort einer aufwändigen Grabpflege, die manchmal an einen Blumenschmuckwettbewerb erinnert.
Der Sinn eines Friedhofs liegt in der würdevollen Erinnerungspflege. Ein Ort, der den Namen eines Verstorbenen noch eine Zeit lang für die Lebenden in Erinnerung hält. Der Name erinnert doch an einen Menschen, der hier oft ein Leben lang gelebt hat, durch seine Art das menschliche Klima mitbestimmt hat, sich oft für die Gemeinschaft eingesetzt hat.

Der Sinn eines Friedhofs ist ein Ort, wo man mit der Trauer um liebe Menschen hingehen kann, sie geistig vor meinem Auge aufsteigen sehe, mich dankbar daran erinnere, worin sie für mich groß waren, was ihnen wertvoll und heilig war. Ein Ort, wo ich im Nachhinein vielleicht auch noch ein Stück aufarbeiten kann, was zwischen uns stehen geblieben ist.
Und neben mir gibt es auch noch Menschen, denen der oder die Verstorbene wichtig war, von denen ich vielleicht gar nichts weiß.

Der Friedhof ist auch ein Ort, der mich einen Abstand zu den Toten finden lässt. So sehr er uns in der Erinnerungspflege hilft, so sehr brauchen wir auch den Abstand, dass der Tote nicht ständig bei mir ist. Wir wissen aus der Trauerarbeit, wie wichtig es ist, die Distanz auch zum Verstorbenen zu finden. Auch dafür können der Friedhof und der Friedhofsgang eine Hilfe sein: Wenn ich zum Friedhof gehe, um meinen verstorbenen Mann zu besuchen und dann wieder nach Hause gehe: Der Tote ist auf dem Friedhof – und ich lebe hier und muss mein alltägliches Leben ohne ihn gestalten. Ich kann ihn besuchen, aber ich muss auch wieder weggehen.

Der Sinn eines Friedhofs liegt auch darin, dass er mich daran erinnert: Du selbst bist sterblich. Friedhöfe erinnern uns daran, dass in unserem Leben noch ganz andere Dinge zählen als das ewige Geld und der Erfolg. Der Friedhof erinnert mich daran, dass ich auch Frieden mit mir und meinem Leben finden muss. Und er sagt mir ständig: Vergiss nicht, was wirklich im Leben zählt!

Welches Gesicht wird unser Friedhof auf diesem Hintergrund haben? Welches Gesicht wird er haben, da Menschen in unserer mobilen Gesellschaft immer mehr die Form der Urnenbestattung wählen und sicherlich auch Baumbestattungen in unserem Friedhof noch an Beliebtheit gewinnen werden?

Mir gehen ein paar Gedanken durch den Kopf:

Ich könnte mir vorstellen, dass unsere Friedhöfe in Zukunft mehr den Charakter einer edlen Schlichtheit bekommen, dass anstatt der großen Grabsteine die Namen auf schlichteren Stelen ihren Platz finden werden. Was würde dagegen sprechen, wenn wir uns nicht mehr im Tod streng durch eine trennende Grabbegrenzung vom anderen abgrenzen würden, wo der Tod uns doch alle gleich macht?
Was würde dagegen sprechen, wenn es keine aufwändigen Grabbepflanzungen mehr geben würde, sondern einfach Rasen oder eine naturnahe Bepflanzung, die keinen großen Pflegeaufwand erfordern und das Gesicht eines öffentlichen Friedhofs sich dadurch langsam verändern würde? Formen unserer Friedhöfe dürfen, ja müssen sich sogar auf dem Hintergrund der mobilen Gesellschaft verändern. Eines meine ich aber muss bei allen zukünftigen Veränderungsprozessen bleiben:

Ein Friedhof ist ein Ort der Erinnerung, an dem Namen wachgehalten werden.
Ein Ort gegen die Anonymisierung.
Ein Friedhof ist ein Ort, an dem Menschen ins Nachdenken über sich selbst bekommen.
Ein Friedhof ist ein Ort der gesunden Trauerarbeit.
Ein Friedhof ist ein Ort der Begegnung der Lebenden.

Liebe Friedhofsbesucher und -besucherinnen,
heute kommen oft Familien aus allen möglichen verschiedenen Windrichtungen zusammen. Vielleicht ist der heutige Nachmittag einmal eine Chance, in der Familie darüber zu reden: Wo wird einmal bestattet? Gibt es vielleicht einmal einen zentralen Ort, wo wir sagen, den können wir aufsuchen? Wie stellen wir uns unsere Gräber einmal vor?
In diesem Sinn wünsche ich Ihnen einen nachdenklichen Allerheiligennachmittag.





Pfarrer Stefan Mai

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