Da bist du mit Gott allein!

Predigt zum 30. Sonntag im Jahreskreis

„Du sollst den Herrn, deinen Gott lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit all deinen Gedanken. Das ist das wichtigste und erste Gebot. Ebenso wichtig ist das zweite: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst!“

Dieses Doppelgebot der Gottes- und Nächstenliebe – so sagen wir - ist wie eine Kurzformel des Glaubens, wie ein ethischer Grundsatzratschlag. Wir tun oft so: Wenn du ihn befolgst, dann kann doch nichts schiefgehen. Dann hast du doch ein entscheidendes Kriterium deines Handels griffbereit. Dann liegst du immer mit deinen Entscheidungen richtig.

Wer jedoch vor schweren ethischen Entscheidungen steht, der spürt schnell, dass trotz solch einleuchtender ethischer Handlungsmaxime es in Einzelfällen nicht leicht ist, die richtige Entscheidung zu treffen. Davon erzählt eine Legende aus der jüdischen Tradition von dem berühmten Rabbi Josua bin Levit:

Eines Tages klopfte am Haus des Rabbi Josua bin Levit ein politischer Flüchtling. Dieser fleht ihn an, ihn aufzunehmen und zu verbergen, da ihm die Häscher des mächtigen Königs auf der Spur seien. Der Rabbi sah sein gehetztes Antlitz, hatte Mitleid mit ihm und versteckte ihn bei sich. Gegen Abend umzingelten die Häscher des Königs die Stadt. Sie sandten Boten hinein und ließen verkünden, dass der Flüchtling auszuliefern sei. Andernfalls werde die Stadt zerstört und das Leben der Einwohner sei verwirkt. Da lief das Volk auf dem Markt zusammen, die Frauen erhoben ihre Stimme zum Geschrei, und die Menge wandte sich an den Rabbi, dass er ihnen rate, was zu tun sei. Er stand bleich da und erbat sich Bedenkzeit bis zum Morgen.
In seiner Not studierte er die heiligen Schriften. Nach langem Suchen fand er einen Ausweg: „Wo das Leben vieler in Gefahr ist, darf der Angeklagte ausgeliefert werden.“
Als der Rabbi den Flüchtling den Königlichen übergeben hatte, erschien ihm der Prophet Elija und stellte ihn zur Rede: „Warum dachtest du nicht an jene Schrift, die allein in den Herzen der Gerechten geschrieben steht? Sieh, in der Not helfen nicht die Meister der Lehre; da bist du mit Gott allein und musst vor ihm erleiden die menschliche Nichtigkeit bis zum Grund.“
Und der Prophet, so schließt die Legende, wandte sich um und ging hinaus ohne Gruß. Rabbi Josuas Kopf aber sank auf den Tisch nieder in bitterster Not, und er erkannte, dass er falsch entschieden hatte.


Rabbi Josua sucht nach einem Entscheidungskriterium in den heiligen Schriften. Und er findet auch einen Ratschlag, nach dem er sein Handeln ausrichtet. Aber der Prophet Elija macht ihm klar: In den heiligen Schriften findest du immer etwas, womit du dein Handeln begründen kannst. Aber im letzten musst du immer ganz allein vor dir und allein mit Gott entscheiden.
Und das hat auch Rabbi Josua gespürt: Im letzten musst du trotz aller Argumentationshilfen, die du dir in den heiligen Schriften für dein Handeln suchst, im Herzen entscheiden. Im Herzen spürst du, was richtig ist, auch wenn es für dich nicht leicht wird.


Pfarrer Stefan Mai

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