Nicht Schöpfer, sondern Geschöpf

Predigt zum Erntedankfest 2014

Levi Jizchak sucht gegen den Willen seines Schwiegervaters einen bekannten Rabbi in Nikolsburg auf und bleibt einige Zeit bei ihm. Als er zurückkommt, fragt ihn der Schwiegervater spöttisch: „Nun, was hast du bei ihm gelernt?“ „Ich habe erlernt“, antwortet Levi Jizchak, „dass es einen Schöpfer der Welt und der Menschen gibt.“ Der Schwiegervater lacht ihn aus, ruft seinen Diener herbei und fragt ihn: „Ist dir bekannt, dass es einen Schöpfer der Menschen gibt?“ „Selbstverständlich“, nickt der Diener. „Ja“, sagt Levi Jizchak nachdenklich, „alle sagen es, aber erlernen sie es auch?“

Alle sagen, dass es einen Schöpfer der Welt gibt, aber erlernen sie es auch?
Das heißt doch: kapiert und verinnerlicht der Mensch, dass er nicht Creator, sondern Kreatur ist, nicht Schöpfer, sondern Geschöpf? Verinnerlicht er sich diese Lebenshaltung: Nicht wir haben das Haus der Welt gebaut. Wir wurden in dieses Haus hineingeboren. Wir bewirtschaften und verwalten es und sollen es für die nach uns bewohnbar halten. Kapieren wir, dass es ein himmelweiter Unterschied ist, ob wir wissen, wem wir uns und die Welt verdanken, oder ob wir uns selbst als die Herren der Welt und als Hausbesitzer gebärden.

Nach dem Schöpfungsbericht gleicht unsere Erde als ganze einem Haus, dessen Etagen und Lebensbereiche einander sinnvoll zugeordnet sind und nicht aus der Balance geraten dürfen. Unsere Erde ein Meisterwerk, von dem der Schöpfer selbst sagt: „Und siehe, es war sehr gut.“

Es ist eine uralte Versuchung des Menschen, sein zu wollen wie Gott, sich als Herrgott aufzuspielen, alles im Griff zu haben, alles zu beherrschen. Eindringlich versucht eine rabbinische Weisheit mit einer nachdenklich machenden Frage vor der Selbstüberschätzung des Menschen zu warnen. Sie fragt: „Warum wurde der Mensch als letztes erschaffen?“ Und antwortet darauf: „Nicht, weil er die Krone der Schöpfung ist. Sondern, damit jede Mücke sagen kann: Ich war schon vor dir da!“
Nur langsam beginnen wir zu begreifen, dass der blaue Planet den Menschen mit sich in den Untergang reißen wird, wenn der Mensch die Gesetze nicht achtet, nach denen die Welt konstruiert ist.

Ich bin als Mensch Kreatur, nicht Creator, Geschöpf und nicht Schöpfer. Die Erde ist mir als großes Geschenk anvertraut. Ich kann nur dankbar sein, dass sie für uns Menschen alles bereithält, was wir zum Leben brauchen.
Dankbar für die Farben und Formen, für die vielfältige Schönheit, die sie meinen Augen bietet.
Dankbar für alles, was meine Ohren wahrnehmen dürfen: für die Musik der Natur in den Stimmen der Vögel, dem Rauschen der Bäche und Blätter, dem Trommeln der Regentropfen auf den Dächern und dem Säuseln des Windes.
Dankbar, was die Erde mir alles bietet und ich als Mensch genießen darf.

Alle sagen, dass es einen Schöpfer der Welt gibt, aber erlernen sie es auch? fragt Levi Jizchak. Ist mir bewusst, mit welcher Großzügigkeit der Schöpfer der Welt uns als Menschen als seine Geschöpfe behandelt? In verblüffender Art will uns Lothar Zenetti dieses Vorschussvertrauen des Schöpfers in seine Geschöpfe mit seinem Gedicht „Am Ende die Rechnung“ vor Augen führen:

Einmal wird uns gewiss
die Rechnung präsentiert
für den Sonnenschein
und das Rauschen der Blätter,
die sanften Maiglöckchen
und die dunklen Tannen,
für den Schnee und den Wind,
den Vogelflug und das Gras
und die Schmetterlinge,
für die Luft, die wir
geatmet haben, und den
Blick auf die Sterne

und für alle die Tage,
die Abende und die Nächte.
Einmal wird es Zeit,
dass wir aufbrechen und
bezahlen:
Bitte die Rechnung.

Doch wir haben sie
ohne den Wirt gemacht:

Ich habe euch eingeladen,
sagt der und lacht,
soweit die Erde reicht:
Es war mir ein Vergnügen.

(Lothar Zenetti)



Pfarrer Stefan Mai

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