Ich bin kein kleiner süßer Engel

Predigt zum Michaelstag in Schönaich

Man nennt mich Engel.
Ich habe vielerlei Gesichter und Gestalt.
auf den kleinen Klebebildchen, die die Kinder in ihren Alben zum Tauschen sammeln, malen sie mir weiches und lockiges Kinderhaar und dicke rote Pausbäckchen. „Meine Engel sind am schönsten“ flüstern sie, während sie in ihre Tauschgeschäfte vertieft sind.

Ich hänge bei Kranken über dem Bett an einem kleinen Nagel, mit zwei Zöpfen und kleinen metallenen Flügeln, so dass sie wissen, da ist jemand, der an sie denkt und mich geschenkt hat.

Ich baumle lustig am Spiegel im Auto. Je schneller du fährst, desto mehr wackle ich und mach dich darauf aufmerksam, du könntest jetzt bald aus der Kurve fliegen.

Ich bin ein kleiner Engel aus Münsterschwarzach: „Ärgere dich nicht Engel“, haben mich die Mönche genannt. Sie behaupten, wenn du mich in die Hand nimmst, wirst du ruhiger und der Ärger verfliegt leichter.

Ich bin die Figur am Weihnachtsbaum: mühevoll aus Holz geschnitzt, deren holde Glückseligkeit und deren schönen Freudenglanz man zur heiligen Zeit in der Stube einfangen und behalten will.

Ich bin in abertausend Kirchen auf den Türmen, an den Kathedralen und Fassaden mit Posaunen, Heerscharen, Harfe, und helfender Hand. Früher flügellos und nur männlich, später voll von Flügeln, voller Augen und von strahlender Jugend; dann der kleine trauernde Kinderengel auf den Gräbern.

Ich bin das Bauchgefühl, das Zögern vor einem von Gefahren durchzuckten Schritt.
Ich bin das Glück im Unglück.
Ich bin der unerwartete Anruf und das wieder Schlafenkönnen nach einem ungewissen Tag.
Sie nennen mich Engel - Mit mir sind tausend und abertausend Geschichten verbunden und in allen bin ich anders.

Ich bin Michael – Erzengel nennt man mich
Eure Vorfahren haben mich als Patron Eures Kirchleins gewählt.
Ihr seht mich vor euch riesengroß auf dem Wandteppich.
Ich bin kein Engel mit einem süßen Gesicht.
Mein Gesicht ist ernst und streng.
Ich stelle eine unangenehme Frage an Euch: Wer ist wie Gott?
Wer ist für Dich Gott? Wie wichtig ist er für Dich? Ist er noch wichtig in deinem Leben oder hast Du längst schon andere Götter an seine Stelle gesetzt? Deinen Erfolg im Beruf? Oder dein kleines privates Glück, in dem dich bitte niemand stören soll? Dein schickes Auto, auf das Du so lange gespart hast, oder die Waage, die Du jeden morgen befragst, ob Du noch die Schönste im Land bist?
Ich trage eine Waffe. Damit zeige ich dir, und das weißt du auch: Leben heißt manchmal auch kämpfen. Du musst manch inneren Schweinehund besiegen, manchen Neid bekämpfen, der dich auffrisst.

Ich geleite die Sterbenden auf ihrem letzten Weg – ich rate, ja ich ermahne euch, nicht auszureißen, wenn es bei einem lieben Menschen ans Sterben geht. Glaubt mir, der größte Trost in der Trauer ist immer der: Wenn du dir sagen darfst: Ich habe mich nicht gedrückt. Ich war da, wenn er oder sie mich brauchte. Ich bin den schweren Weg mitgegangen.

Ja, meine lieben Schönaicher, ich gehöre nicht zu den lieben, kleinen süßen Engelchen, die jetzt schon bald wieder in vielen Geschäften zum himmlischen Kaufvergnügen einladen. Ich schlage ernste Lebensthemen an. Sagt Ihr trotzdem: „Michael, wir brauchen dich?“


Pfarrer Stefan Mai

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