Leben lernen

Ansprache zur Segnung des Nachhaltigkeitszentrums in Handthal

Merkwürdig, dass manchmal uralte Konzepte plötzlich wieder neu erscheinen und topaktuell sind. So das Konzept der antiken Stoiker, deren Kernprogramm lautet: „Secundum naturam vivere – gemäß der Natur leben.“
Die Stoiker waren überzeugt: Der Mensch ist ein Teil der Schöpfung. Er kann deshalb auf Dauer nur zufrieden und glücklich leben, wenn er die Gesetze der Natur zu erkennen versucht und sich darin einordnet und sich nicht über sie willkürlich hinwegsetzt. „Secundum naturam vivere“ ist vielleicht das älteste Nachhaltigkeitsprogramm, das es seit mehr als 2000 Jahren gibt.

Auf ganz einfache und volkstümliche Weise drückt diese Überzeugung der Stoiker „gemäß der Natur leben – von der Natur das Leben lernen“ ein Lied unserer Tage von Kurt Mikula aus. Es lautet:

1.
Von der Sonne lerne zu wärmen,
einer von vielen zu sein, lern von den Sternen.
Vom Wind lern frei zu leben,
von den Wolken mit Leichtigkeit schweben.
Zu nehmen und zu geben,
lern von der Ebbe und der Flut,
und von jedem neuen Tagdie Hoffnung:
Es wird gut.

2.
Vom Meer lern im Überfluss geben,
mit dem Adler in die Höhe zu streben.
Von den Bäumen lern standhaft zu bleiben,
und vom Grashalm im Sturm dich zu neigen.
Von der Sonne und vom Regen
in Freud und Leid zusammenstehn,
dann kannst du hoch am Firmament
den Regenbogen sehn.

3.
Lern von den Blättern im Herbst loszulassen,
und vom Winter neue Kräfte zu fassen.
Vom Frühling immer neu zu beginnen,
dich zu verwandeln von den Schmetterlingen.
Von den Jungen lern zu wachsen,
von den Alten auszuruhn,
da wo du jetzt im Leben stehst
das Wichtige zu tun.

4.
Und vom Herbst lern Abschied zu nehmen,
vom Regen deiner Tränen dich nicht zu schämen.
Von den Blumen lern dich offen zu zeigen,
und von den Steinen lerne das Schweigen.
Vom Abendrot das Wissen,
dass nach jeder dunklen Nacht,
dass trotz aller Finsternis
ein neuer Tag erwacht.

Ich wünschte mir, unabhängig vom Kampfgeschrei zwischen Befürwortern und Gegnern Nationalpark und Nachhaltigkeitszentrum, dass dieses Zentrum in Zukunft Menschen und hoffentlich vor allem Kindern und Jugendlichen einen Dienst erweist:
Die Lust wecken, von der Natur zu lernen.
Sich als Teil der Natur zu verstehen,
über die geheimnisvollen Zusammenhänge und Abläufe in der Natur zu staunen und vielleicht über das Staunen sogar eine Brücke zu Gott bauen.

Schriftttext: Seht euch die Vögel des Himmels an: Sie säen nicht, sie ernten nicht und sammeln keine Vorräte in den Scheunen; euer himmlischer Vater ernährt sie. Seid ihr nicht viel mehr wert als sie?
Lernt von den Lilien, die auf dem Feld wachsen: Sie arbeiten nicht und spinnen nicht. Doch ich sage euch: Selbst Salomo war in all seiner Pracht nicht so gekleidet wie eine von ihnen.


Pfarrer Stefan Mai

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