Wodurch Selbstbewusstsein wächst

Predigt zum Bartholomäustag in Wiebelsberg (Joh 1,45-51)

Einleitung
In diesem Jahr feiert unser Kirchlein St. Bartholomäus ein Jubiläum. Vor 90 Jahren haben Ihre Wiebelsberger Vorfahren unter großen Opfern gebaut.
Vor 25 Jahren wurde diese Kirche für 230.000 DM renoviert, der Altarraum wurde neu gestaltet. Die Wiebelsberger spendeten damals dank ihrer selbstlosen Sammlerin Dora 60.000 DM. Glauben Sie, dass ein solcher Kraftakt heute in Wiebelsberg noch möglich wäre?
Die Vorgängerkapelle stand früher mitten im Dorf. Man musste um die Kirche herumfahren. Bei jedem Gang oder jeder Fahrt durch Wiebelsberg, mussten Menschen auf sie schauen.
Heute steht unsere Kirche etwas eingerückt auf der Seite. Wer durch Wiebelsberg fährt, huscht schnell an ihr vorbei, ohne sie groß zu bemerken. Ich glaube, das allein sagt viel im Bild über die Stellung unserer Kirche in unserer Gesellschaft

Predigt
Der Apostel Bartholomäus wird gemäß der kirchlichen Tradition mit Nathanael identifiziert, dessen Berufungsgeschichte wir gerade im Evangelium gehört haben.
Bartholomäus, Bar Tolmai, Sohn des Furchenziehers, bedeutet sein Name. Ein Bauernjunge also, aus Kana in Galiläa. Jesus sieht ihn auf sich zukommen und sagt spontan: „Hier kommt ein echter Israelit, ein Mann ohne Falsch!“ (Joh 1,47). Kein Wunder, dass Nathanael Bar Tolmei erstaunt ruft: „Woher kennst du mich?“
„Hier kommt ein echter Israelit, ein Mann ohne Falsch!“ Ob das Nathanaels Selbstwahrnehmung entsprochen hat? Ob er sich selbst so gut fand wie Jesus, der ihn mit diesen Worten charakterisiert hat? Wohl kaum! Sonst wäre er nicht so überrascht gewesen, sondern hätte sich geschmeichelt und hofiert gefühlt und mit stolzer Brust gedacht: Endlich, dass einer mal merkt, was in mir steckt.

Geht es nicht den meisten von uns so? Wenn einer uns lobt, dann sind wir oft überrascht. Wenn einer von uns groß denkt, dann steigt in uns zuerst ein komisches Gefühl auf, weil wir uns als nichts Großartiges vorkommen. Aber erst dadurch werden wir auf wertvolle Goldkörner aufmerksam, die in uns verborgen schlummern.
Ist es nicht so, dass oft andere Menschen an uns wertvolle Seiten entdecken, die wir selbst oft gar nicht wahrnehmen?
Viele Menschen empfinden sich erst als schön und sind mit ihrem Aussehen versöhnt, weil ihnen ein Mensch sagt: Du bist schön und ich hab dich lieb! Viele Menschen entdecken erst dadurch ihre Stärken, weil sie durch einen Lehrer, durch einen Ausbilder darauf aufmerksam gemacht werden und Freude daran gewinnen, diese Fähigkeiten zu entfalten.
Ich kann mich noch genau an die Stunde an einem grauen Wintertag in der 3. Volksschulklasse erinnern, wie unsere Lehrerin mit uns lange Kettenrechnereien machte, wie ich dann das richtige Ergebnis sagte und sie meinen glühenden Kopf in die Hände nahm, mich anschaute und sagte: „Mein kleiner Rechenkönig!“ - und ich spürte: Du kannst doch etwas.
Ich vergesse nie das Gesicht meines Deutschlehrers am Gymnasium, wie er strahlte, als ich das Gedicht „Herbsttag“ von Rainer Maria Rilke von der Naturbeschreibung hin auf das menschliche Leben interpretierte und mir klar wurde: Das kannst du! Texte auf das Leben hin auslegen.
Ja oft brauchen wir, dass andere Menschen mich auf etwas Wertvolles aufmerksam machen und an mir entdecken, wofür ich selber blind war oder es gar nicht glauben konnte. Oft brauchen wir die Erfahrung, dass mir einer oder eine vertraut und mit mir etwas anfangen kann.
„Hier kommt ein echter Israelit, ein Mann ohne Falsch!“ das heißt nicht: Da kommt ein Mann ohne Fehler. Ein Mann ohne Falsch ist vielmehr ein Mensch ohne falsche Selbsteinschätzung, ohne überzogene Selbststilisierung, der zu seinen Schwächen steht, aber auch bereit ist, seine Fähigkeiten für andere Menschen fruchtbar zu machen. Dafür steht für mich die Antwort Jesu, wie Nathanael ihn Jesus fragt: Woher kennst du mich? Und Jesus ihm sagt: „Bevor dich Philippus rief, habe ich dich unter dem Feigenbaum gesehen.“ Der Feigenbaum, ein wichtiger fruchtbringender Baum im Land Israel.
Liebe Leser,
die Berufungsgeschichte unseres Kirchenpatrons sagt mir eines: Welch ein Geschenk für mich, wenn Menschen mich auf meine positiven Seiten aufmerksam machen, wenn sie Wertvolles an mir entdecken. Welch ein Geschenk, wenn mir bewusst wird: Mit dem, was mir als Geschenk ins Leben mitgegeben wurde, kann ich das Leben anderer bereichern.

Fürbitten
Wir beten für alle Menschen, die kein Selbstbewusstsein haben, weil sie nie Wertschätzung und Bestätigung im Leben erfahren haben

Wir beten für alle, die mit einem übersteigerten Selbstbewusstsein sich maßlos überschätzen und dadurch arrogant geworden sind

Wir beten für alle Eltern, Erzieherinnen, Lehrer und Ausbilder, die Kindern und Jugendlichen helfen wollen, ihre Stärken zu entdecken und zu entfalten

Wir beten für alle, die sich in unserem Dorf um unsere Kirche, deren 90. Geburtstag wir in diesem Jahr begehen, kümmern und für alle, die sie gerne besuchen

Wir beten für alle Wohltäter dieser Kirche und unsere Verstorbenen. In diesem Gottesdienst denken wir an.................................


Pfarrer Stefan Mai

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