Menschen am Ende der Kraft– und doch ein neuer Anfang

Predigt zum 20. Sonntag im Jahreskreis (Mt 15,21-28)

Einleitung
„Wie kann ich dir helfen?“
„Klar, das mach ich doch gerne.“
„Überhaupt kein Problem. Morgen ist es erledigt.“
„Du weißt doch, ich bin immer für dich da.“
„Du kannst mich jederzeit anrufen.“
Das hören wir gerne. Menschen, die solche Sätze sagen, sind gern gesehen. Sie sind beliebt. Ihnen werden Eigenschaften wie „hilfsbereit, sozial eingestellt, offen, freundlich“ zugesprochen.
Jesus fällt in der Geschichte, die wir heute als Evangelium hören, durch das Beliebtheitsraster des netten und freundlichen und immer hilfsbereiten Menschen.

Predigt
Ich will nix mehr hör und kenn mer seh!
Jetzt lasst mer doch endlich mal mei Ruh!
Immerzu is kee Ackerläng!
Wenn das so weiter geht, werde ich noch verrückt!
Ich kann nicht mehr!

Wer schon einmal so gefühlt hat, der kann diesen harten Jesus heute im Evangelium vielleicht eher verstehen. Diesen Jesus, der brutal nein sagt. So kennen wir Jesus nicht. Sonst weist er seine Jünger zurecht, die die Hilfe suchenden Leute abwimmeln wollen. Jetzt lässt er eine Frau in tiefer Not kalt abblitzen, wie man es brutaler nicht machen kann. Er lässt sie einfach stehen. „Jesus gab ihr keine Antwort“, heißt es lapidar. Er will einfach seine Ruh!

Jesus ist auch nur ein Mensch. Und der Mensch Jesus ist müde. Vielleicht sogar müde an Leib und Seele. Er braucht Ruhe, Rückzug. Ein unerwartetes Verhalten für den Mann, den wir gerne als unermüdlich und immer hilfsbereit sehen. Die vielen vorausgegangenen Streitgespräche und Heilungen haben an seinen Kräften gezehrt. Zu Hause in Galiläa waren Jesus ganze Marktplätze voll mit Patienten vor die Füße gelegt worden. So viele bedürftige und hilflose Menschen. So viel Not und Elend.
Zwischendrin hatte er versucht, sich manchmal abzuseilen:
Schon am letzten Sonntag haben wir bei der Seesturmgeschichte gehört: „Inzwischen wollte er die Leute nach Hause schicken. Nachdem er sie weggeschickt hatte, stieg er auf einen Berg, um zu beten“ (Mt 14,22f)
Und wenige Zeilen davor, vor der Brotvermehrung heißt es: „Er fuhr mit dem Boot in eine einsame Gegend, um allein zu sein (Mt 14,13).
Doch jetzt braucht er anscheinend mehr als nur ein bisschen Ruhe. Er zieht sich sogar zurück ins Ausland. Verlässt den Boden Israels und geht nach Phönizien. In das Gebiet der Hafenstädte Tyrus und Sidon. Wahrscheinlich nimmt er an, dass ihn dort kein Mensch kennt und man ihn in Ruhe lässt.

Auch Jesus kommt an seine Grenzen: Pausenlos für andere da zu sein, das ist nicht möglich. Auch ein Mensch voller Energie und Mitgefühl für die Menschen wie Jesus kann nicht grenzenlos geben. Das wäre Ausbeutung, Raubbau an sich selbst. Deshalb diese Reaktion: Frau, lass mich in Ruh, für dich bin ich nicht zuständig. Du bist eine Fremde. Deine Not geht mich nichts an! Ich hab genug mit meinen Leuten zu tun!

Die Frau gibt aber nicht auf. Sie fällt vor ihm nieder, stammelt und schluchzt: „Herr, hilf mir!“ Das ist fast schlimmer als das Geschrei von vorher.
Und dann sagt Jesus diesen schlimmen Satz. „Es ist nicht Recht, den Kindern wegzunehmen und den Hunden vorzuwerfen.“ Wer hätte so etwas hinter Jesus vermutet. Dass er so herablassend und verächtlich von einer Ausländerin spricht. „Du hast von mir kein Brot zu erwarten. Er gehört den meinen. Den Kindern und nicht den Hunden.“ Die Israeliten nannten die Heiden tatsächlich „Hunde“. Das mag wie ein Messerstoß ins Herz der Frau gewesen sein.

Aber ich behaupte, dass wir das kennen. Wenn wir an der Grenze unserer Kraft waren und jemand ließ uns nicht in Ruhe.
Wenn das Kind zum x - ten Mal Ärger macht. Vielleicht haben wir gedacht oder sogar gesagt: „Wie komm ich bloß zu so einem Kind?“ Und dann:“Geh mir aus den Augen. Ich kann dich nicht mehr sehen.“
Oder wenn ein pflegebedürftiger Angehöriger uns nachts dauernd weckt. Nicht auszuhalten.
Oder wenn wir sowieso schon nicht wissen, wie wir alles schaffen sollen, und dann kommt noch etwas dazu. Kritik vielleicht, eine ungeschickte Bemerkung.
Doch gerade am allertiefsten Tiefpunkt geschieht in der Frau eine Wandlung. Sie reagiert geistreich, souverän, klug. Bisher war sie unterwürfig. Jetzt beginnt ein Gespräch auf Augenhöhe. Da ist nichts mehr zu spüren von der Verzweiflung und Not. Sie schaut Jesus in die Augen und sagt: „Ja, Herr, du hast recht. Aber selbst die Hunde bekommen von den Brotresten, die vom Tisch ihrer Herren fallen.“
Die Frau dreht die verletzenden Worte Jesu um und argumentiert damit. Sie sagt: „Du hast recht, Herr. Ich komme an zweiter Stelle. Oder an dritter. Ich möchte ja gar nicht an erster Stelle sein. Aber auch für mich ist etwas übrig.“
Die Bittstellerin spürt vielleicht die Erschöpfung Jesu, doch sie traut ihm noch Kraftreserven zu. Sie will ja nicht alles von ihm, sondern nur Reste, Krümel. Ein Krümel Zuwendung und Barmherzigkeit. Sie traut Jesus zu, dass er noch einen Rest Kraft für sie hat. Mehr will sie nicht.
Liebe Leser,
diese so anstößig daherkommende Geschichte ist für mich am Ende doch eine Geschichte mit hintergründiger Lebensweisheit.
Sie sagt mir: Wenn wir müde und ausgelaugt sind, dann brauchen wir Menschen – wie es Jesus in unsere Geschichte erlebte –, die unsere Grenzen wieder weit machen. Die nicht verletzt und gekränkt reagieren. Die mit einem unerwarteten Wort unseren müden Geist wieder wachrütteln und erfrischen.
Und sie macht mich darauf aufmerksam:
Wenn Menschen am absoluten Tiefpunkt angelangt sind, dann spüren sie oft: Ich habe nichts mehr zu verlieren. Da wächst mir eine Kraft zu. Eine Kraft, die ich bisher nicht gekannt hat. Und die lässt über sich selbst hinauswachsen.
Die Anregung zur Predigt verdanke ich Ute Stolz in www.predigtpreis.de


Pfarrer Stefan Mai

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