Ein leerer Platz an der Seite

Predigt zu Maria Himmelfahrt 2015

Predigt
„Frau Baumgärtner, gell heute darf ich neben dir sitzen“, sagt die kleine Nele, wie sich die Drittklässler in den Stuhlkreis zum Vorlesen einer Geschichte setzen. Neben der Lehrerin sitzen zu dürfen, wird als besondere Auszeichnung empfunden.

Es ist nur ein amüsantes Kinderspiel „mein rechter, rechter Platz ist leer...“ und doch steckt etwas Archetypisches dahinter. Alle Mitspieler setzen sich in einen Kreis, ein Sitzplatz allerdings muss frei bleiben. Der Spieler links vom leeren Stuhl beginnt. Er legt seine Hand auf die Sitzfläche des leeren Stuhls und sagt:
“Mein rechter, rechter Platz ist leer. Da wünsch´ ich mir den Florian her.” Nun muss der Mitspieler, dessen Name genannt wurde, den Platz wechseln und ein neuer Platz wird frei. Der nächste Spieler sitzt wieder links vom freien Platz und sucht sich einen Mitspieler aus, den er gerne neben sich sitzen haben möchte.


Der rechte Platz ist von unserem menschlichen Empfinden immer ein besonderer Platz, eine Art Ehrenplatz. Wer auf ihm sitzen darf hat eine besondere Beziehung zum Gastgeber.

Das Gedicht von Rainer Maria Rilke über Mariä Himmelfahrt erfordert höchste Konzentration. Aber auf dem Hintergrund des Ehrenplatzes an der Seite kann man es leichter verstehen. Es lautet:

Wer hat bedacht, dass bis zu ihrem Kommen
der viele Himmel unvollständig war?
Der Auferstandne hatte Platz genommen,
doch neben ihm, durch vierundzwanzig Jahr,
war leer der Sitz. Und sie begannen schon
sich an die reine Lücke zu gewöhnen,
die wie verheilt war, denn mit seinem schönen
Hinüberscheinen füllte sie der Sohn.

So ging auch sie, die in die Himmel trat,
nicht auf ihn zu, so sehr es sie verlangte;
dort war kein Platz, nur Er war dort und prangte
mit einer Strahlung, die ihr wehe tat.
Doch da sie jetzt, die rührende Gestalt,
sich zu den neuen Seligen gesellte
und unauffällig, licht zu licht, sich stellte,
da brach aus ihrem Sein ein Hinterhalt
von solchem Glanz, dass der von ihr erhellte
Engel geblendet aufschrie: Wer ist die?
Ein Staunen war. Dann sahn sie alle, wie
Gott-Vater oben unsern Herrn verhielt,
so dass, von milder Dämmerung umspielt,
die leere Stelle wie ein wenig Leid
sich zeigte, eine Spur von Einsamkeit,
wie etwas, was er noch ertrug, ein Rest
irdischer Zeit, ein trockenes Gebrest –.
Man sah nach ihr; sie schaute ängstlich hin,
weit vorgeneigt, als fühlte sie: ich bin
sein längster Schmerz –: und stürzte plötzlich vor.
Die Engel aber nahmen sie zu sich
und stützten sie und sangen seliglich
und trugen sie das letzte Stück empor.


In poetischer Sprache schildert Rainer Maria Rilke, wie Maria nach ihrem Tod in den Himmel kommt. Der Platz an der Seite Jesu war leer. Man hat sich daran gewöhnt. Aber er ist ein Zeichen dafür: Der Himmel ist noch unvollständig, auch wenn Jesus diesen leeren Platz mit seinem Glanz zu erfüllen scheint. Maria stellt sich unaufdringlich zu den Himmelsbewohnern, auch wenn es sie innerlich zu ihrem Jesus hinzieht. Sie macht sich nicht bemerkbar, stellt sich auch nicht als Mutter Jesu vor und spielt sich nicht in den Vordergrund. Sie bleibt – wie sie es im Leben war – im Hintergrund. Aber die Himmelsbewohner spüren: Auch wenn sich Maria nicht in den Vordergrund spielt, von ihrem Wesen geht ein derart besonderer Glanz aus, dass ein Engel auf sie aufmerksam wird und fragt: Wer ist die? Gott Vater macht Jesus auf seine Mutter aufmerksam. Und wie Maria auf ihren Sohn zugehen will, nehmen sie Engel an der Hand und tragen sie mit Engelsgesang auf den leeren Platz an der Seite Jesu.
Liebe Leser,
mit seinem Gedicht über Maria Himmelfahrt setzt Rainer Maria Rilke in der Figur Mariens allen Menschen ein Denkmal, die versucht haben, ihr Leben menschlich und ehrlich zu meistern, die aber nie etwas Besonderes daraus gemacht haben. Er verneigt sich vor allen, die sich nie in den Vordergrund gedrängt haben, obwohl ihnen Menschen so viel verdanken – und ist überzeugt: Im Himmel hat man ein besonderes Gespür für solche Menschen, auch wenn sie auf dieser Welt scheinbar nur Nebenrollen spielen oder überhaupt nicht beachtet werden.
Eine trost- und hoffnungsvolle Botschaft: Auch wenn der Himmel noch so voll ist: Jesus hält den Ehrenplatz für solche Menschen vom Schlag Maria frei. Die liegen ihm besonders am Herzen – und nicht die Wichtigtuer.

Fürbitten
Für die Mächtigen dieser Welt: Dass ihnen ihre große Verantwortung bewusst ist und sie für Gerechtigkeit und Frieden eintreten
Für die Ohnmächtigen auf dieser Welt, die nur noch ein Spielball politischer oder wirtschaftlicher Interessen sind. Dass ihnen einmal Gerechtigkeit widerfährt
Für alle, die sich Tag für Tag bemühen, ihre Arbeit treu zu erfüllen und gut zu Menschen zu sein, aber keine Wertschätzung erfahren. Dass sie nicht an ihrem Selbstwert zweifeln
Für alle, die mit einem leeren Platz an der Seite leben müssen. Dass ihnen der Trost von innen her wachsen möge
Für unsere Verstorbenen. In diesem Gottesdienst nennen wir stellvertretend die Namen von..............................Dass sie deine Nähe spüren und genießen dürfen


Pfarrer Stefan Mai

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