Wohltuende Räume – ruhende Pole

Predigt zum 14. Sonntag im Jahreskreis (Kiliani-Sonntag)

Einleitung
Vor 65 Jahren hat das gläubige Frankenvolk die Reliquien der Heiligen Kilian, Kolonat und Totnan in einer großen Prozession aus ihrer Kriegsunterkunft in Gerolzhofen zurück nach Würzburg gebracht. Mit den Reliquien zog nach den Kriegsjahren ein gestärktes und politisch aktives Christentum in der Stadt ein. Gebrannt durch die Ideologien der Nazidiktatur setzten die Menschen in Deutschland großes Vertrauen in die Kirche. Nach Jahren der Tyrannei, der Unmenschlichkeiten und des Krieges brauchte das Land, so die Überzeugung vieler Menschen, den christlichen Glauben und die Kirche umso dringender.

Inzwischen hat die Kirche dieses Vertrauen und diese Rolle eingebüßt. Wenn Sie gefragt würde, wozu brauchen Menschen heute noch die Kirche, welche Antwort würden Sie geben?

Predigt
Bis heute ziehen Kirchenräume Menschen an. Erstaunlich, wieviele Menschen es in Großstädten untertags noch in die Kirchen zieht. Touristen, die unterwegs sind. Frauen mit Einkaufstaschen, die eine Kerze entzünden, sich in die Bank setzen, ihren Gedanken nachhängen oder an einen Menschen denken. Aber auch Top-Manager, die während der Mittagspause die Stille und Kühle der Kirche suchen, um ein wenig zur Ruhe zu kommen.

Wohltuend die Bergkapellen, die bei einer Wanderung zum Rasten einladen. Die Autobahnkirchen, die im dröhnenden Geräuschpegel der vorbeiflitzenden Autos wie Oasen sind, in denen gestresste Autofahrer für ein paar Minuten „runterfahren“ können.
Erstaunlich, dass große Fußballstadien, in denen die Emotionen hochkochen und die Begeisterungsstürme und Pfiffe weit ins Land hinaushallen, einen Andachtsraum anbieten. Auch im deutschen Bundestag, in dem oft hitzige Debatten stattfinden, besteht die Rückzugsmöglichkeit in einem Raum der Stille.

Räume der Entschleunigung und der Stille tun Menschen gut. Der Dichter Reiner Kunze bringt dies mit wenigen Worten auf den Punkt:

Wer da bedrängt ist findet
Mauern, ein Dach
und muss nicht beten


Das Geheimnis solcher Räume: Sie stehen für jeden offen, regen zum Nachdenken an, vereinnahmen nicht und stellen keine Anforderungen.

Ruhende Pole

Nicht nur Orte lassen Menschen zur Ruhe kommen. Auch manche Personen strahlen etwas aus, das Menschen in schwierigen Situationen anzieht und bei ihnen Ruhe finden lässt. Sie strahlen allein durch ihr Dasein eine wohltuende Ruhe aus.

Was zeichnet diese Personen aus, dass sie dieses Vertrauen genießen? Bei ihnen dürfen die Zuflucht Suchenden sein, wie sie sind, sie werden nicht betuttelt oder therapiert, sie werden aber auch nicht gleich in Programme eingespannt, müssen nicht an etwas Bestimmtes glauben, dürfen einfach Mensch sein.

Kommt alle zu mir...

Im Evangelium lädt Jesus Menschen, die geplagt sind und schwere Lasten zu tragen haben, ein, bei ihm auszuruhen.
Das auffällige: Er verlangt keine Vorleistungen, stellt keine Dogmen und moralischen Ansprüche vor die Einlasstüre, prüft kein theologisches Wissen. Für ihn gibt es ein einfaches Glauben, ohne dass jemand mit allen theologischen Wassern gewaschen sein muss oder eine religiöse Leistungsbilanz vorlegen muss. Er preist Gott, dass er unmündigen und einfachen Menschen einen Zugang zu Glauben und Gottvertrauen gegeben hat, den "die Weisen und Klugen" nicht haben.

Ein Dach für die Seele finden

Komisch, auf der einen Seite ziehen Kirchenräume, Räume der Ruhe bis heute Menschen an. Auf der anderen Seite erleben wir aber eine Kirchenflucht. Wie ist das zu erklären?

Ich fürchte: Allzu leicht fühlen sich jene ausgeschlossen, die eine große Last zu tragen haben und mit manchen kirchlichen Qualitätsansprüchen nicht mithalten können.

Vielleicht hat die derzeitige Kirchenflucht nicht nur damit zu tun, dass Kirche oft die Qualitätsansprüche, die sie selbst stellt, nicht einhält, sondern auch damit, „dass man als Kirchenmitglied immer eine Leistung zu erbringen hat, etwas tun muss, und dass alles, was wir tun, nicht ausreicht, um Seelenruhe zu finden. Es könnte immer noch ein bisschen mehr sein. Man fühlt sich wie im Fitnessstudio. Der Kirchenbeitrag wird als Symbol dafür empfunden und wird für manchen zum Stein des Anstoßes.“ (Hans Hütter)

Ein Dach für die Seele und einen Ort des Ausruhens finden, ohne Vorleistungen bringen zu müssen. Menschen zu treffen, die aus ihrem Glauben heraus Vertrauen ins Leben haben und wohltuende Ruhe und Wärme ausstrahlen – danach sehnen sich nach wie vor die Menschen.
Orte der Ruhe und in sich ruhende Menschen, das sind die Werbeträger unserer Kirche in unserer Zeit.


Pfarrer Stefan Mai

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