Warum dir, warum gerade dir?

Predigt zu Johanni 2014 (Mk 6,17-29)

Eines Tages kam Bruder Masseo zu Franziskus und fragte ihn: „Warum dir? warum gerade dir?“ „Was meinst du damit? wendet Franziskus ein. „Warum läuft gerade dir alle Welt nach? Du bist nicht schön von Gestalt, du bist nicht sehr gelehrt und du bist nicht adelig! Warum gerade dir?“ Als Franziskus diese Worte vernimmt, wendet er sein Angesicht gegen den Himmel und verharrt regungslos einige Minuten in dieser Haltung. Dann kniet er nieder und spricht zu seinem Mitbruder: „Du willst wissen, warum gerade mir das zuteil geworden ist, gerade mir? Gott wollte in seiner Barmherzigkeit allen Menschen dieser Welt durch mich, den Sünder, den Untauglichen, den Armen und Einfältigen, Trost zusprechen, gleichzeitig aber auch die Mächtigen und Stolzen beschämen und aufrütteln und zur Umkehr bewegen.“

Die gleiche Frage, die Masseo Franz von Assisi gestellt hat, könnten wir unserem Kirchenpatron Johannes dem Täufer stellen: Warum dir, warum ausgerechnet dir? Warum läuft gerade dir alle Welt nach? Du hast kein schönes Aussehen. Zottelig im Kamelgewand und mit wilden, ungepflegten Haaren stehst du da! Hart gehst du mit dir selbst und mit anderen um. Du hast kein freundliches Auftreten. Du hast keine freundlichen Worte für die Menschen, die zu dir in die Wüste hinauskommen. Von Einfühlungsvermögen in die Probleme und Sorgen der Menschen lese ich nichts. Im Gegenteil: Mit knallharten Worten drohst du Menschen: „Ihr Schlangenbrut, wer hat euch denn gelehrt, dass ihr dem kommenden Gericht entkommen könnt.“ Welch ruppiger Ton! Das müsste doch eigentlich Menschen abschrecken. Und dennoch heißt es: „Die Leute von Jerusalem und ganz Judäa und aus der ganzen Jordangegend zogen zu ihm hinaus“. Und selbst von Herodes, der ihn ins Gefängnis hat werfen lassen und später töten ließ, heißt es: „Herodes fürchtete sich vor Johannes, weil er wusste, dass dieser ein heiliger und gerechter Mann war. Darum schütze er ihn. Sooft er mit ihm sprach, wurde er unruhig und ratlos, und doch hörte er ihm gern zu.“ (Mk 6,20)
Wie kann man dies verstehen? Ein harter, unbequemer Mann – und dennoch mit ungeheurer Anziehungskraft?

Haben Sie nicht auch schon die Erfahrung gemacht: Ich stehe vor einem Bild, kann es nicht entschlüsseln und dennoch macht es mich unruhig, ja sogar ratlos und doch komme ich nicht von ihm los, setze mich mit ihm auseinander, spüre, es hat mir etwas zu sagen und versuche, es für mich zu entschlüsseln.
Genauso geht es mir auch manchmal mit Gedichten oder Texten. Ihre Aussage geht mir eigentlich gegen den Strich. Und dennoch lassen sie mich nicht los, gehen mir nach. Ich spüre eine innere Unruhe, weil ich ahne, die haben mir etwas Wichtiges zu sagen, auch wenn es mir nicht passt

Ob es nicht genauso mit Menschen vom Schlag eines Johannes ist? Ob wir nicht hin und wieder solche Menschen brauchen, die uns mit Seiten von uns konfrontieren, die wir nicht wahrhaben wollen, die uns auf wunde Punkte stoßen, die wir gern verdecken. Ob nicht gerade die Menschen in unserer Lebensgeschichte ungeheuer wichtig sind, die uns unruhig gemacht haben, ja bisweilen sogar ratlos?
Johannestypen sind nicht bequem, aber sie bringen Menschen weiter!


Pfarrer Stefan Mai

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