„Die Macke muss bleiben!“

Predigt zum 3. Fastensonntag (Joh 4)

Der Franziskanerpater Erich Purk aus Münster erzählte einmal, was er bei einem Gottesdienst, zu dem besonders Obdachlose eingeladen waren, erlebt hat:

Auf dem Altar stand ein großer Krug, eine kleine Vase und ein Blumentopf. Da kamen Krug und Vase miteinander ins Gespräch:
Der Krug schaute auf das Väschen herab und sagte: „Schau mich an. Ich stehe oft in der Mitte des Zimmers. Einen großen Blumenstrauß kann ich fassen, und mein Wasser ist nie erschöpft. Du aber bist klein und unscheinbar. Mit mir kannst du nicht konkurrieren.“
Da antwortete die Blumenvase: „Ich bin zwar klein, aber die Herrin des Hauses stellt mich mitten auf den Tisch, und eine einzige Rose blüht in mir auf. Ich bin kein Massenprodukt, keine Nummer aus einer Serie. Mich hat die Künstlerin als Original geformt. Und schau dich doch an: Bei dir geht schon der Lack ab!“
Dann schauten beide verächtlich auf den Blumentopf. „Der hat ja ne Macke!“ Am Rand des Topfes war ein Sprung und ein Stück herausgebrochen.“ Den kann man nur wegwerfen. Der ist für nichts mehr zu gebrauchen.“ - „Warum wegwerfen? Immer noch kann der Gärtner Erde hineinfüllen und einen Samen hineinlegen. Und eine Blume wächst darin, die man in die Vase stellen kann.“

Da stand auf einmal ein Obdachloser auf, kam nach vorne und legte seinen Finger zärtlich in die Lücke des Blumentopfs: „Die Macke muss bleiben“, sagte er. „Die Macke ist die Tür zum Herzen. Durch ihre eigenen Fehler und Schwächen verstehen die Menschen uns leichter. Die Wunden sind Augen – Augen des Verstehens. Die Perfekten, die Hundertprozentigen verstehen nichts. Sie verurteilen nur.“ (Erich Purk, Wasser, schenk mir dein Geheimnis, S. 118f)


Der Lebenskrug – im Bild gesprochen - , mit dem die Samariterin zum Brunnen kommt, hat eine Macke. Ihre tiefe Sehnsucht nach Geborgenheit, nach Aufgehobensein in einer guten Beziehung hat sich nicht erfüllt, sie trägt diese Wunde mit sich – und gerade diese wird zum Tor, durch das sie Jesus begegnet. Gerade durch diese Bruchstelle ihres Lebens lässt sie sich auf Jesus ein und wird offen für das Angebot Jesu. Sie, die vor den Leuten ausgerissen ist, geht jetzt wieder zu den Menschen und erzählt von dieser Begegnung, die sie verändert hat.

Liebe Leser!
„Die Macke muss bleiben“, sagte der Obdachlose. „Die Macke ist die Tür zum Herzen. Durch ihre eigenen Fehler und Schwächen verstehen die Menschen uns leichter. Die Wunden sind Augen – Augen des Verstehens. Die Perfekten, die Hundertprozentigen verstehen nichts. Sie verurteilen nur.“

Zur Zeit läuft bei uns in der Johanneskapelle die Ausstellung schmerzRAUM. Sie möchte über unsere eigenen Wunden und Verwundungen zum Nachdenken bringen. Nicht nur das Schmerzende in Erinnerung rufen, sondern auch den verborgenen Sinn von manchem, worunter wir schwer tragen, erahnen lassen.
Der Songpoet Leonhard Cohen drückt es in einem tiefsinnigen Lied so aus: „There`s a crack in everything and that`s how the light gets in“ (deutsch: Durch alles geht ein Riss, durch ihn fällt das Licht herein.“)
Und der große leidgeprüfte Maler Vincent van Gogh schrieb in einem Brief: „Da ich in diesem tiefen mysteriösen Brunnen von Herzeleid gewesen bin, besteht ein Schatten von Möglichkeit, dass ich dir etwas Nützliches sagen kann."


Pfarrer Stefan Mai

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