Predigt zu Mt 17,1-9 (A/Fast 2)

Eine literarische Taborstunde

Es ist erstaunlich, wie häufig bei großen Schriftstellern gerade biblische Motive verarbeitet werden. Meistens merkt man das nicht beim ersten Lesen. Oft geschieht es versteckt und in Andeutungen.
Es ist nicht auf den ersten Blick zu sehen, dass Peter Handke in seiner Erzählung Die linkshändige Frau die Verklärungsgeschichte neu erzählt. Aber lassen Sie sich einmal darauf ein:

Mutter und Tochter machten einen Ausflug. Sie gingen auf einen Berg. Sie machten Rast. Sie schauten nur und aßen. Die Frau lachte auf; schüttelte den Kopf. Dann erzählte sie:
"Vor vielen Jahren habe ich einmal Bilder von einem amerikanischen Maler gesehen, vierzehn in einer Reihe, die die Leidensstationen Jesu Christi darstellen sollten - du weißt, wie er Blut schwitzt auf dem Ölberg, wie er gegeißelt wird, und so weiter ... Diese Bilder bestanden aber nur aus schwarzweißen Flächen, ein weißer Untergrund, über den längs und quer schwarze Streifen gingen. Die vorletzte Station - `Jesus wird vom Kreuz genommen' - war fast schwarz zugemalt, und die Station danach, die letzte, wo Jesus ins Grab gelegt wird, auf einmal völlig weiß. Und jetzt das Seltsame: ich ging an dieser Reihe langsam vorbei, und als ich vor dem letzten Bild stand, dem ganz weißen, habe ich plötzlich darauf das fast schwarze als flimmerndes Nachbild noch einmal gesehen, einige Augenblicke lange, und dann nur noch das Weiß."


Sie schauten, aßen und tranken. Das Kind versuchte zu pfeifen, was ihm in der Kälte nicht gelang. Die Frau sagte: "Machen wir noch ein Foto, bevor wir gehen."

Auf den ersten Blick hat diese Erzählung scheinbar nichts mit der Verklärung zu tun. Da ist nicht die Rede von Mose und Elija, kein Wort von der Gottesstimme, nichts von den Hütten. Aber es ist von einem Berg die Rede. Von den Kleidern Jesu wird nicht gesprochen, aber von einem leuchtenden Weiß. Und sogar von Verwandlung ist die Rede: Als die Frau vor den Kreuzwegbildern steht, "verwandelt sich" das tiefe Schwarz in Weiß. Für einen Augenblick lang.

Meisterhaft, wie Peter Handke in eine heutige Situation rückt, in eine scheinbar banale Situation, was "Verklärung" bedeuten kann. Die Frau steckt in einer tiefen Ehekrise. Sie hat kein leichtes Leben. Ihr Glück ist zerbrochen, und es stehen ihr schwere Jahre bevor. Bei der Rast auf dem Berg mit ihrem einzigen Vertrauten, ihrem Kind, kommt ihr plötzlich diese Erinnerung: Schwarz löst sich in Weiß auf. Dann bleibt nur noch das Weiß. Das sind für die Frau mehr als Farben. Sie weiß, was "schwarz" ist. Aber sie hat vor dem modernen Kreuzweg erlebt, wie "schwarz" sich auflösen kann.
Kein Wunder, dass sie - wie die Jünger in der Bibel die Hütten bauen wollten, um den schönen Augenblick festzuhalten - noch ein Foto machen will. Dieses Gefühl von Erleichterung, wo für einen Moment alles Bedrückende von der Seele genommen ist, diese Rast auf dem Berg möchte sie festhalten. Später, wenn dieses Gefühl wieder vorbei ist, wenn das Schwere des Lebens und die Aussichtslosigkeiten sie wieder einholen, möchte sie diesen Augenblick des Glücks wieder einmal anschauen können.

Liebe Leser,
Verklärungsstunden können eigentlich nur Menschen geschenkt werden, die in tiefem Leid stecken oder großes Leid auf sich zukommen sehen. Verklärungsstunden sind keine außergewöhnlichen Stunden. Mitten im banalen Alltag, beim Geschirrspülen, beim Einkaufen, im Gespräch mit einem Arbeitskollegen, bei einem Spaziergang - kann plötzlich dieses Gefühl aufblitzen: Es wird einem leicht. Ich fühle mich sicher. Das Bedrohliche schwindet. Ich fasse wieder Mut. Das kann nur einen Augenblick dauern. Dann kann es wieder ganz normal weitergehen. Und trotzdem habe ich eine Verklärungsstunde erlebt.


Pfarrer Stefan Mai

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