Seid heilig!

Predigt zum 7. Sonntag i. J. (A/7: Mt 5,38-48; Lev 19,1-2.17-18)

Einleitung
In dem aufsehenerregenden Interview, das der Jesuit Antonio Spandaro mit Papst Franziskus im vergangenen Sommer führte, fragte er ihn unvermittelt: „Wer ist Jorge Mario Bergoglio?“ Der Journalist erzählt: Der Papst blickt mich schweigend an. Ich frage ihn, ob man ihm eine solche Frage stellen darf. Er gibt mir ein Zeichen, dass er die Frage akzeptiert, und sagt: „Ich weiß nicht, was für eine Definition am zutreffendsten sein könnte… Ich bin ein Sünder. Das ist die richtigste Definition. Und es ist keine Redensart, kein literarisches Genus. Ich bin ein Sünder.“
Der Papst denkt weiter nach, ergriffen, so als hätte er diese Frage nicht erwartet, als wäre er gezwungen, eine weitere Überlegung anzustellen.
Und dann sagt er: „Ja, ich kann vielleicht sagen, ich bin ein wenig gewieft, ich verstehe mich zu bewegen, aber es stimmt, dass ich auch ein bisschen arglos bin. Ja, aber die beste Zusammenfassung, die mir aus dem Innersten kommt und die ich für die zutreffendste halte, lautet: ‚Ich bin ein Sünder, den der Herr angeschaut hat.‘“ Und er wiederholt: „Ich bin einer, der vom Herrn angeschaut wird.“
Der Papst – ein Sünder. Ja, ein Sünder, der Gott die Chance gegeben hat, etwas aus ihm zu machen. Haargenau trifft Franziskus, wie sich Jesus uns Menschen wünscht.

Predigt
Ein Spitzensatz aus dem Alten Testament in der heutigen Lesung: „Seid heilig, denn ich euer Gott bin heilig!“ (Lev 19,2).
Wie fühlen sich diese Worte bei Ihnen an?
Ich vermute: Die wenigsten fühlen sich geschmeichelt. Das ist doch eine maßlose Zumutung und Überforderung, sagen die einen. Andere lächeln und schütteln den Kopf: Nein danke, zu den komischen Heiligen möchte ich nicht gehören.
Trotzdem nochmals: „Seid heilig, denn ich euer Gott bin heilig!“ Vielleicht kommt es darauf an, welchen Klang man dem Wort „heilig“ gibt.
Ein iranisches Sprichwort hilft mir dabei. Es lautet: „Jeder Heilige hat eine Vergangenheit und jeder Sünder eine Zukunft.“
Das heißt doch: Auch die Heiligen waren nicht schon immer perfekte Wesen. Auch bei Heiligen gab es eine Zeit, in der ihnen nicht alles gelungen ist. Auch Heilige hatten ein Leben mit Fehlern, Ecken und Kanten. Jeder Heiliger hat seine Vergangenheit als Sünder.
Und deshalb gilt umgekehrt: Jeder Sünder hat auch eine Zukunft – als Heiliger. Ende offen. Wer könnte schon sagen, wie sich ein Mensch noch entwickelt? Ein Sünder ist ein Mensch, in dem möglicherweise ein Heiliger steckt, der nur noch nicht richtig zum Vorschein gekommen ist.
So gesehen sagt der Satz vom Heiligsein Gottes und vom Heiligwerden der Menschen: Nutz‘ Deine Chancen. Mach‘ was aus dem, was in dir steckt!
Auch Jesus greift den Satz vom Heiligsein Gottes auf: in seiner Bergpredigt. Er interpretiert ihn so: „Ihr sollt vollkommen sein, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist" (Mt 5,48). Und er sagt ganz konkret, was er damit meint: „Gott lässt seine Sonne aufgehen über Bösen und Guten, und er lässt regnen über Gerechten und Ungerechten“ (Mt 5,45).
Ich horche auf. Heiligkeit heißt: nicht urteilen, sondern allen Menschen, wer und wie sie auch sind, das Leben gönnen.
Über niemandem den Stab brechen. Auch denen, die es scheinbar nicht verdienen, die gleichen Chancen geben wie den anderen. Nicht einteilen in Gute und Böse. Nicht die einen verhungern lassen und den anderen alles in den Rachen reinstopfen.
Gott zeigt seine Heiligkeit und Vollkommenheit, indem er die ungeahnten Möglichkeiten fördert, die in einem Menschen stecken.
„Seid vollkommen wie euer Vater im Himmel vollkommen ist!“ So stellt sich Jesus seine Leute vor: Sie deuten nicht auf die anderen und sagen: Ihr seid aber Sünder. Sondern sie wissen: Wir selbst sind Sünder – aber wir haben eine Zukunft. Denn sie glauben daran, dass Gott mit ihnen etwas vorhat. Und auch mit den andern. Denn: „Er lässt seine Sonne aufgehen über Bösen und Guten, und er lässt regnen über Gerechten und Ungerechten.“
In unsere Sprache übersetzt: Du hast viel mehr Möglichkeiten als du glaubst, ganz abgesehen von den ungeahnten Möglichkeiten Gottes mit dir!

Fürbitten
Guter Gott, du lässt deine Sonne aufgehen über Bösen und Guten und es regnen über Gerechte und Ungerechte. Wir bitten dich heute:

Wir beten um die Kraft, anderen Menschen vorurteilslos begegnen zu können
V/A: Schenke sie uns, Herr.

Wir beten um die Fähigkeit, anderen vergeben zu können …

Wir beten um die Gabe, anderen von Herzen das Gute zu gönnen …

Wir beten um die Fähigkeit, uns selbst verzeihen zu können …

Wir beten um die Kraft, zum Wohl unserer Mitmenschen wirken zu können …

Wir beten um die Gnade, den Glauben an das Gute im Menschen nie zu verlieren …

Wir bitten um Aufmerksamkeit für das Gute, das Menschen uns tun …

Wir bitten:
V/A: Bewahre uns, o Herr

Vor dem Einteilen der Menschen in gut und böse …

Vor Neid und Missgunst …

Vor einem übertriebenen Verlangen nach moralischer Perfektion …

Vor Hass und Unversöhnlichkeit …

Vor Rache und Vergeltung …

Vor dem Lecken von Wunden …

Vor dem ewigen Nachtragen erlittenen Unrechts …

Wir beten schließlich für unsere Toten.
In diesem Gottesdienst nennen wir stellvertretend die Namen von................................
Lass ihre Person bei dir zur Vollendung kommen …

Darum bitten wir durch Christus, unsern Herrn.


Pfarrer Stefan Mai

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