Ich habe immer hinübergeschaut, seit ich hier bin

Predigt zum Allerseelentag 2013

Einleitung
Wer von uns hat nicht schon einmal einen Karl May Roman in seinen Händen gehabt? Wem sind Winnetou und Old Shatterhand kein Begriff. Gestaunt habe ich, als ich per Zufall in seiner Spätwerks-Erzählung ›Am Tode‹ aus dem Jahr 1902, die er - geschüttelt von einer schweren Lebenskrise - schrieb, auf einen Dialog zwischen Halef und Kara Ben Nemsi gestoßen bin. Mit diesem Dialog möchte ich uns heute am Allerseelentag einstimmen auf den Gottesdienst.

»Sihdi, wie denkst du über das Sterben?«
Wir waren stundenlang schweigsam nebeneinander her geritten, und nun erklang diese Frage so plötzlich, so unerwartet, so unmotiviert, dass ich den Sprecher erstaunt ansah und keine Antwort gab ...
»Sihdi, wie denkst du über das Sterben?« wiederholte er seine Frage, als ob er annehme, dass ich ihn nicht verstanden habe.
»Du kennst ja meine Ansicht über den Tod«, antwortete ich nun. »Er ist für mich nicht vorhanden.«
»Für mich auch nicht. Das weißt du wohl. Aber ich habe dich nicht nach dem Tode, sondern nach dem Sterben gefragt. Dieses ist da, kein Mensch kann es wegleugnen!«


Der Sihdi will sich, so hat es zumindest den Anschein, nicht einlassen auf diese Thematik. Doch der kleine Scheik insistiert. Von der Abwehr, den Ausweich-Manövern des erzählenden ›Ich‹ lässt er sich nicht beirren:

»Sihdi ... Die Frage kommt immer wieder. Wie denkst du über das Sterben? Antworte mir; ich bitte dich!«
»Lieber Halef, meinst du nicht, dass es besser wäre, von etwas anderem zu sprechen?«
»Besser oder nicht besser; ich kann jetzt an nichts anderes denken. Es ist, wie ich schon sagte, nicht der Tod, den ich meine. Den habe auch ich früher für etwas Wahres gehalten, jetzt aber weiß ich, dass er nichts als Täuschung ist. Wenn wir von ihm sprechen, so meinen wir eben das Sterben, welches doch kein Tod ist. Hast du schon darüber nachgedacht?«
»Natürlich! Jeder ernste Mensch wird das tun. Warum fragst du denn nicht dich selbst? Du hast doch ebenso wie ich schon Menschen sterben sehen?«
»Nein, noch keinen!«
»Wieso? Ich habe doch mit dir vor Sterbenden gestanden!«
»Allerdings. Aber sterben sehen habe ich trotzdem noch keinen Einzigen.

Man legt sich hin; man schließt die Augen; man röchelt; man hört auf zu atmen; dann ist man gestorben. Aber was ist dabei geschehen? ... Kannst du mir das sagen?«
»Nein, das kann ich nicht. Das kann überhaupt kein Lebender ... Lieber Halef, ich bitte dich, von diesem Gegenstande abzubrechen! Was Gott allein wissen darf, das soll der Mensch nicht wissen wollen!«
»Woher weißt du, dass nur Allah es wissen darf? Das Sterben ist ein Scheiden. Ich darf ja wissen, wohin mich dieses Scheiden führen soll, nämlich in Allahs Himmel. Warum soll es mir verboten sein, zu erfahren, in welcher Weise dieser Abschied vor sich geht?


Predigt
Viele kennen aus früherer Zeit das Kinderspiel „Angst vor dem schwarzen Mann“:
Der „Schwarze Mann“ steht am einen Ende des Spielfeldes,
die anderen Spieler am anderen Ende.
Der "Schwarze Mann" ruft: „Wer hat Angst vom schwarzen Mann“?
Die Mitspieler schreien zurück: „Niemand, Niemand“! –
Der "Schwarze Mann" fragt weiter: „Und wenn er aber kommt?“ –
Und frech kommt es zurück: „Dann laufen wir davon“!
Beim letzten Satz laufen alle Spieler los und versuchen am schwarzen Mann vorbei das andere Spielfeld zu erreichen.
Der schwarze Mann schlägt so viele Läufer wie möglich durch Antippen ab. Diese helfen im nächsten Durchlauf dem Schwarzen Mann beim Fangen. Der Letzte, der übrig bleibt, hat gewonnen und ist im nächsten Spiel der schwarze Mann.


Ein altes Spiel, wahrscheinlich auf die Pestzeit zurückzuführen, auf den „schwarzen Tod“. Das würde auch das Spielprinzip folgerichtig erklären: Jeder, der von der Pest befallen wird (im Spiel: angetippt wird), ist selber Träger des „Schwarzen Todes“ und gehört zum Heer des „Schwarzen Mannes“, das die Seuche ausbreitet.
Wer hat Angst vor dem schwarzen Mann, dem Tod? Wirklich niemand?

Ein Hirt saß bei seiner Herde am Ufer eines großen Flusses, der am Rande der Welt fließt. Wenn er Zeit hatte, schaute er über den Fluss und spielte auf seiner Flöte. Eines Abends kam der Tod über den Fluss herüber und sprach: „Ich komme und möchte dich mitnehmen. Ich möchte dich mitnehmen auf die andere Seite des Flusses. Hast du Angst? Warum Angst?, fragte der Hirte, ich habe immer hinübergeschaut, seit ich hier bin. Ich weiß, wie es dort ist.
Da legte ihm der Tod die Hand auf die Schulter, und der Hirte stand auf. Dann nahm ihn der Tod an die Hand und fuhr mit ihm über den Fluss. Das Land am anderen Ufer war ihm nicht fremd, dem Hirten. Und die Töne seiner Flöte, die der Wind hinübergetragen hatte, waren noch da.


Mit der Angst vor dem Tod - so möchte uns die Geschichte vom Hirten nahebringen, kann der besser fertig werden, der in seinem Leben oft hinübergeschaut hat an das andere Ufer.
Will uns nicht jede Eucharistiefeier helfen, hinüberzuschauen an das andere Ufer
...wenn wir uns jedes Mal in das Leben und Sterben Jesu vertiefen
...wenn wir Sonntag für Sonntag im Glaubensbekenntnis sprechen: Ich glaube an die Auferstehung der Toten
...wenn wir uns in den Fürbitten oder im Hochgebet immer an die Verstorbenen erinnern und auch an die Hoffnung, dass wir da drüben empfangen werden, wenn unser eigenes Leben zu Ende geht?

Will uns nicht jeder Aschermittwoch, wenn uns die Asche von der Stirn rieselt, an die eigene Vergänglichkeit erinnern?
Hilft uns nicht jeder Gräbergang, den Gedanken an den Tod nicht zu verdrängen?
Ist nicht jede Beerdigung, an der wir teilnehmen, ein Klopfzeichen an die Tür unserer Todesverdrängung, besonders wenn wir für den Menschen aus unserer Mitte beten, der als nächster oder nächste dem Verstorbenen folgen wird?
Ist es nicht kostbarster Unterricht, wie es die Dichterin Hilde Domin bezeichnet, was wir an Sterbebetten erleben, wenn wir nicht davor ausreißen?

Jeder, der geht,
belehrt uns ein wenig
über uns selber.
Kostbarster Unterricht
an den Sterbebetten.


Und wie tröstlich ist es, dass die Melodie unseres Lebens, die wir hier gespielt haben hinüberhallt ans jenseitige Ufer und dass alles redliche Bemühen von uns in den Ohren Gottes einen guten Klang hat.

Liebe Leser! „Hast du Angst vor dem Tod? - Warum Angst? Ich habe immer hinübergeschaut, seit ich hier bin.“ Wenn wir das - wie der Hirte - von uns sagen können, könnte die Angst vor unserem eigenen Tod vielleicht eine Spur geringer werden.

Fürbitten
Gott, du bist der Herr über Leben und Tod. Wir erinnern uns an die Verstorbenen des vergangenen Jahres. Deswegen bitten wir zuerst für sie:
A: Herr, erhöre uns
- Dass sie das Ziel ihres Suchens und Mühens gefunden haben
- Dass ihnen das Gute ihres Lebens gelohnt wurde
- Dass wir ihnen herzlich verbunden bleiben können

Gott, du bist der Herr über unsere Zeit. Wir bitten dich jetzt für uns:
- Dass wir unser Leben nach der Botschaft Jesu ausrichten
- Dass wir die Dinge der Welt gebrauchen, aber auch rechtzeitig loslassen können
- Dass wir den Gedanken an Tod und Sterben nicht verdrängen

Gott, du bist das Leben und die Zukunft. Deswegen bitten wir für die nachfolgende Generation:
- Dass sie bekommen, was sie zu einem menschenwürdigen Leben brauchen
- Dass wir unseren Glauben und unsere Hoffnung mit ihnen teilen
- Dass sie sich zu einem verantwortungsbewussten Menschsein bekennen

Darum bitten wir dich durch Christus, unsern Herrn.


Pfarrer Stefan Mai

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