Nur Vergesslichkeit?

Predigt zum 30. Sonntag im Jahreskreis C ( Tim 4,9-18)

War er nur vergesslich, der Apostel Paulus, dass er seinen Mantel liegen gelassen hat? Hat er einfach nicht daran gedacht, dass er die Bücher und Pergamente später brauchen würde und er hat sie deshalb nicht eingepackt? Will er sich nun die vergessenen Dinge einfach nachschicken lassen?
Dieser Gedanke könnte einem kommen, wenn man den persönlichen Briefschluss des Apostels Paulus an seinen Schüler Timotheus liest, und es könnte einen über die eigene Vergesslichkeit ein wenig hinwegtrösten, wenn so etwas sogar einem Paulus passiert.
Doch irgendwie spüre ich, dass hinter diesem vergessenen Mantel und den liegengebliebenen Büchern viel mehr steckt als nur ein Stückchen Stoff oder ein paar Seiten Papier.

Denn Paulus sitzt im Gefängnis. Ehemalige Freunde und Weggefährten haben ihn verlassen oder andere Aufgaben übernommen. Nur ein Lukas hält ihm noch die Stange. Von einem groben Schmied ist die Rede, der ihm viel Böses angetan hat. Und beim Gerichtsverhör nimmt für ihn keiner Partei. „Alle haben mich im Stich gelassen.“

Paulus sitzt am Ende seines Lebens enttäuscht da. Was hat er sich über die Jahre abgerackert, wen wollte er alles für das Evangelium begeistern. Mit wie vielen Freunden war er auf seinen Missionsreisen und hatte große Träume und Pläne? Jetzt sind ihm die Hände gebunden. Hilflos, einsam und müde sitzt er da.

Beeil dich, komm bald zu mir! ... Wenn du kommst, bring den Mantel mit, den ich in Troas bei Karpus gelassen habe...Beeil dich, komm noch vor dem Winter!
Hinter solchen Sätzen steckt die Sehnsucht nach menschlicher Wärme, nach Menschen, die in meiner Nähe sind und mich ihre Wärme spüren lassen, die mich verstehen und zu mir halten.

Bring auch die Bücher und Pergamente mit!
Dahinter steckt die Sehnsucht nach Worten, die wie Lebensbrot sind, die einem Mut machen, die neu träumen lassen und Trost spenden. „Alle guten Worte stehen in Büchern, meint ein Sprichwort aus China. Bücher sind die stillsten und beständigsten Freunde, sie sind die zugänglichsten und weisesten Ratgeber und die geduldigsten Lehrer.

Liebe Leser,
bring auch die Bücher und Pergamente mit!
Beeil dich, komm bald zu mir! ...Wenn du kommst, bring den Mantel mit!
Am Ende zählen ein paar Worte, die dich halten.
Am Ende zählen ein paar Menschen, die zu dir halten.


Pfarrer Stefan Mai

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