Nicht in Nebensachen verlieren!

Predigt zur Sternprozession zur Franziskusstatue in den Weinbergen von Wiebelsberg 2013

Eine jüdische Geschichte erzählt. Ein Mann kam zu einem Rabbi: „Die Leute nennen mich einen Frömmler, klagte er, nicht einen Frommen. Was unterscheidet den Frömmler vom Frommen?“ Der Rabbi überlegte kurz und gab eine knackige Antwort: „Der Frömmler macht die Nebensachen des Glaubens zu seiner Hauptsache, die Hauptsache aber zu seiner Nebensache.“

Diese Antwort sitzt: Der Frömmler macht die Nebensachen des Glaubens zur Hauptsache, die Nebensachen aber zu Hauptsache.
So empfanden viele Menschen in den letzten Jahren immer mehr, wenn sie auf die Kirche zu sprechen kamen.

Frömmelnde Kirche: Mit erhobenem Zeigefinger tritt sie auf als Anwalt der Moral und versucht ihren eigenen Dreck, solange es geht, unter den Teppich zu kehren.

Frömmelnde Kirche: Sie kreist dauernd um sich selbst, um die Fragen von Strukturreformen, und tut so, als sei dies das Wichtigste auf der Welt und verliert dabei immer mehr die Sehnsüchte, die Sorgen und Ängste der Menschen aus dem Blick, und das, wofür sie eigentlich da ist.

Frömmelnde Kirche: Sie beschäftigt sich mit Kleidervorschriften und zaubert alte Hüte aus dem Mittelalter hervor und zieht sich immer mehr in fromme Räume und die Sakristei zurück, anstatt mit den Strömungen unserer Zeit und den Menschen an den Rändern in einen echten Dialog zu treten.

Frömmelnde Kirche: Obwohl der eigentliche Schatz unserer Kirche die vielen einfachen Menschen guten Willens sind, ist ihr Erscheinungsbild wieder klerikaler geworden.

Frömmelnde Kirche: Sie reduziert Theologie auf Normen und merkt gar nicht, dass dies die meisten überhaupt nicht mehr interessiert und die noch Interessierten eher Hilfestellungen erwarten, wie man aus dem Geist des Evangeliums sein oft kompliziertes Leben gestalten kann.

Frömmelnde Kirche: Nicht das Vertrauen auf das Evangelium ist der eigentliche Lebensmotor, ihr Lehrmeister scheint eher die Angst zu sein.

„Der Frömmler macht die Nebensachen des Glaubens zu seiner Hauptsache, die Hauptsache aber zu seiner Nebensache.“
Aus diesem Grund wollte Franz von Assisi für seinen Orden kein großes Regelwerk und keine großen Statuten verfassen. Er träumte davon, dass ein paar Sätze des Evangeliums genügen und dadurch der Geist Jesu Maßstab und Richtschnur, Ermutigung und Impulsgeber für ein glaubwürdiges christliches Handeln bleibt.

Mir scheint unserer Kirche mit Papst Franziskus ein Mann geschenkt worden zu sein, der glasklar die Gefahr einer frömmelnden Kirche erkannt hat. Dies wird deutlich in seinem Interview, das er kürzlich für Jesuiten-Zeitschriften gegeben hat und das weltweit für Aufsehen gesorgt.

Stichwort Klerikalisierung

"Ich sehe die Heiligkeit im geduldigen Volk Gottes: Eine Frau, die ihre Kinder großzieht, ein Mann, der arbeitet, um Brot nach Hause zu bringen, die Kranken, die alten Priester, die so viele Verletzungen haben, aber auch ein Lächeln, weil sie dem Herrn gedient haben, die Schwestern, die so viel arbeiten und eine verborgene Heiligkeit leben. Das ist für mich die allgemeine Heiligkeit. (...) Das war die Heiligkeit meiner Eltern, meines Vaters, meiner Mutter, meiner Großmutter Rosa, die mir so viel Gutes getan hat."

"Wenn jemand behauptet, er sei Gott mit absoluter Sicherheit begegnet und nicht berührt ist von einem Schatten der Unsicherheit, dann läuft etwas schief. (...) Wenn einer Antworten auf alle Fragen hat, dann ist das der Beweis dafür, dass Gott nicht mit ihm ist. (...) Die großen Führer des Gottesvolkes wie Moses haben immer Platz für den Zweifel gelassen."

Und der Knaller in einem Interview vor wenigen Tagen. Franziskus meinte: Die Kirche müsse wieder zu einer Gemeinschaft des Volkes Gottes werden und die Priester und Bischöfe sollten als Seelsorger im Dienst des Volkes Gottes stehen. Die Führer der Kirche seien oft Narzisten gewesen, umgeben von schmeichelnden Höflingen. Angesprochen auf Klerikalismus erklärte Franziskus schmunzelnd: „Wenn ich vor einem Klerikalen stehe, werde ich auf einen Schlag antiklerikal.“ Klerikalismus dürfe mit dem Christentum nichts zu tun haben.

Stichwort: Strukturreformen

(Franziskus sagt:) "Die organisatorischen und strukturellen Reformen sind sekundär, sie kommen danach. Die erste Reform muss die der Einstellung sein. Die Diener des Evangeliums müssen in der Lage sein, die Herzen der Menschen zu erwärmen, in der Nacht mit ihnen zu gehen. Das Volk Gottes will Hirten und nicht Funktionäre oder Staatskleriker."

Stichwort: Moral predigen anstatt Evangelium verkünden

"Es gibt zweitrangige kirchliche Normen und Vorschriften, die früher einmal effizient waren, die aber jetzt ihren Wert und ihre Bedeutung verloren haben. Die Sicht der Kirche als Monolith, der ohne jeden Abstrich verteidigt werden muss, ist ein Irrtum."
"Wir können uns nicht nur mit der Frage um die Abtreibung befassen, mit homosexuellen Ehen, mit Verhütungsmethoden. Das geht nicht. Ich habe nicht viel über diese Sachen gesprochen. Das wurde mir vorgeworfen. Aber wenn man davon spricht, muss man den Kontext beachten. Man kennt ja übrigens die Ansichten der Kirche, und ich bin ein Sohn der Kirche. Aber man muss nicht endlos davon sprechen."

Stichwort: im Gespräch bleiben

"Meine autoritäre und schnelle Art, Entscheidungen zu treffen, hat mir ernste Probleme und die Beschuldigung eingebracht, ultrakonservativ zu sein. (...) Es war meine autoritäre Art, die Entscheidungen zu treffen, die Probleme verursachte."..."Ich glaube jedoch, dass die Konsultation sehr wichtig ist. Die Konsistorien und die Synoden sind zum Beispiel wichtige Orte, um diese Konsultation wahrhaftig und aktiv durchzuführen. Man sollte sie in der Form allerdings weniger starr gestalten. Ich wünsche mir wirkliche, keine formellen Konsultationen."

Dieser eingeschlagene Weg, den Papst Franziskus für die Erneuerung einer glaubwürdigeren Kirche vorgibt, wird nicht leicht sein und wird auch nicht von heute auf morgen realisiert werden können. Es wird viel Nachdenken, Diskussion und Kraft erfordern, wie konkrete Maßnahmen Fuß fassen können.

Von seinem Vorbild Franz von Assisi wissen wir, wie dieser versucht hat, Kirche nicht auf den Binnenraum einzuschränken, sondern im Gespräch mit den Menschen zu bleiben, ja sogar mit sogenannten Feinden ins Gespräch zu kommen. Von ihm wissen wir, dass gerade er, der streng mit sich umging, nicht Vorschriften über den Menschen stellte. Von ihm wissen wir, wie er in seiner tiefen Spiritualität den Blick auf die Welt nicht verlieren wollte. Hierzu einige Beispiele:

Franz wollte im Gespräch bleiben

Franz von Assisi schloss sich 1219 dem 5. Kreuzzug nach Ägypten an. Dort erlebt er die gewaltsamen Methoden der Kreuzfahrer. Davon abgeschreckt inszeniert er ein gegenteiliges, gewaltloses Verhalten: Es gelingt ihm, ohne Waffen, allein mit dem Bekenntnis, Christ zu sein, bis zum Sultan Melek al Kamil vorzudringen und mit ihm zu sprechen. Er wollte den Sultan nicht bekehren, er suchte das Gespräch mit ihm. Nicht andere bekehren, Evangelium leben und von anderen lernen. Vom regelmäßigen Gebetsruf des Muezzin war er so beeindruckt, dass er nach seiner Rückkehr an die Verantwortlichen der Gemeinden einen Brief schrieb mit der Bitte, am Abend in den Städten und Dörfern es dem Muezzin nachzumachen und durch einen Herold oder irgendein Zeichen an Gott zu erinnern.

Für Franz von Assisi stand der Mensch vor dem Gesetz

In der Fastenzeit hält es ein Bruder nicht mehr aus. Er schreit in der Nacht vor Hunger. Franziskus weckt alle Brüder auf und, um den einen in seiner Begrenztheit nicht zu beschämen, läßt er für alle ein reichliches Mahl richten und lässt alle gemeinsam mit dem hungrigen Bruder essen. Solches Verhalten zeugt von großer innerer Weite. Er lässt er zu, dass das Fasten gebrochen wird. Ein anderer Wert hat jetzt Vorrang: der Mensch, so wie er ist und wozu er fähig ist. Wer die richtige Werteordnung hat, der weiß, wie weit er gehen kann – und auch wie weit er gehen muss.

Franz wusste: Kirche darf sich nicht einigeln und sich nur um sich selbst drehen.

Ich denke an seine Einsiedeleien. Sie sind die Orte im Leben des Franziskus, an denen er sich in Gott vertiefte. Aber fast jede Einsiedelei hat eine Stelle, die den Blick in die Weite freigibt. - Und ich denke an Franziskus, der in die Weite geht, zu den Menschen, in ihre Städte, auf ihre Märkte. Er trägt seine Einsiedelei stets bei sich: die Sehnsucht, ein Mann Gottes zu sein, und die Kapuze, um sich mitten im Gewühle die Einsiedelei zu schaffen.

Und das Faszinierende an ihm. Er wusste, Kirche wird nie vollendet sein, sie wird immer Suchende bleiben müssen. Kurz vor seinem Tod rief er seine Mitbrüder zusammen und meinte:
„Freunde, wann fangen wir denn endlich an? Bisher haben wir uns kaum von der Stelle bewegt!“


Pfarrer Stefan Mai

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