Jesus dreht den Spieß um – zweimal

Predigt zu Lk 10,25-37 (C 15)

Einleitung
Die erste Pastoralreise von Papst Franziskus nach Lampedusa hat großes Aufsehen erregt. Noch mehr seine Worte. Er hat gesagt:
„...wir sind in die heuchlerische Haltung des Priesters und des Leviten geraten, von der Jesus im Gleichnis vom barmherzigen Samariter sprach: Wir sehen den halbtoten Bruder am Straßenrand, vielleicht denken wir „Der Arme“ und gehen auf unserem Weg weiter; es ist nicht unsere Aufgabe; und damit beruhigen wir uns selbst und fühlen uns in Ordnung. Die Wohlstandskultur, die uns dazu bringt, an uns selbst zu denken, macht uns unempfindlich gegen die Schreie der anderen; sie lässt uns in Seifenblasen leben, die schön, aber nichts sind, die eine Illusion des Nichtigen, des Flüchtigen sind, die zur Gleichgültigkeit gegenüber den anderen führen, ja zur Globalisierung der Gleichgültigkeit. In dieser Welt der Globalisierung sind wir in die Globalisierung der Gleichgültigkeit geraten. Wir haben uns an das Leiden des anderen gewöhnt, es betrifft uns nicht, es interessiert uns nicht, es geht uns nichts an!“

Predigt
„Samariter“ – das hat einfach einen guten Klang. Die meisten denken sofort an den „barmherzigen Samariter“, von dem heute im Ev. die Rede ist. Andere denken an die „Samariter“ auf der Straße, die sich um die Halbtoten kümmern, Freizeit und Kraft einsetzen, um dort zur Stelle zu sein, wo Hilfe nötig ist. „Samariter“ – das hat einfach einen guten Klang.
Das war zu Jesu Zeiten ganz anders. Da zog man bei „Samariter“ als echter Jude die Nase hoch. „Samaritaner“ – die sind gewalttätig: überfallen Pilger aus Galiläa. „Samaritaner“ – das sind abtrünnige Häretiker: Die haben sich auf ihrem Berg Garizim einen Konkurrenztempel gebaut. „Samaritaner“ – in deren Adern fließt Ausländerblut: Die haben sich mit den assyrischen Soldaten vermischt, die bei ihnen angesiedelt wurden.
„Samaritaner – hör‘ mir auf mit denen!“, hätte ein frommer Jude zur Zeit Jesu gesagt.
Und der gelehrte Theologe Jesus Sirach reagiert nicht anders: „das törichte Volk, das in Sichem wohnt“, schreibt er (50,26) – und meint die Samaritaner.
Und da erzählt Jesus diese Geschichte von einem Halbtoten in der Wüste, auf dem Weg von Jerusalem nach Jericho. Und da kommt ein frommer Priester – auf dem Heimweg vom Tempeldienst. „Und er ging auf der anderen Seite vorbei“ – erzählt Jesus. Genauso der Levit. Beides Vorbildgestalten der Frömmigkeit und der Gesetzestreue.
Nur der Samaritaner, der aus dem „törichten Volk“, der als gottlos, häretisch und gewalttätig verschrien ist, ausgerechnet der Samaritaner hat ein Herz und packt an …
Jesus dreht den Spieß um. Er kämpft mit dieser Geschichte gegen Vorurteile. Er gibt zu bedenken: Was in einem Menschen wirklich steckt, das wirst du nicht sehen, wenn er in Amt und Würden vor aller Augen seinen Dienst tut, wie Priester und Levit im Tempel. Nein, was in einem Menschen steckt, das wirst du erkennen, wenn er auf dem Heimweg ist, scheinbar unbeobachtet.
Was in einem Menschen wirklich steckt, wirst du nicht erfahren, wenn du auf das hörst, was alle über ihn sagen. Sondern nur, wenn du dir selbst ein Bild machst.
Was in einem Menschen steckt, darüber geben weder sein Name Auskunft noch seine Herkunft, weder sein Beruf noch seine Stellung, sondern: sein Handeln. Darauf schau!
Aber damit nicht genug. Jesus dreht den Spieß noch ein zweites Mal um.
Gefragt: Wer ist mein Nächster?, gibt Jesus keine Definition, wie es der Schriftgelehrte erwartet hätte. Jesus erzählt vielmehr diese Geschichte – und fragt dann seinerseits: Wer von den dreien hat den unter die Räuber Gefallenen wie seinen Nächsten behandelt?
Jesus lässt sich nicht ein auf theologische Haarspaltereien: Wer ist mein Nächster? Wem muss ich helfen? Wie erfülle ich das zweitwichtigste Gebot korrekt?

Jesus dreht den Spieß um und fragt: Von wem kann ich lernen, was das Wichtigste an meiner Religion ist? Von wem kann ich abschauen, wie man handeln muss, damit das Zentrum meiner Religion sichtbar wird?
Jesus rät dem Schriftgelehrten: Nimm dir den Samaritaner zum Vorbild – und du wirst gewiss in den Himmel kommen. Da brauchst du dir keine Sorgen machen: Von Gott wirst du einmal nicht gefragt: Wie lautet die richtige Definition von „Nächster“ – sondern: Hast du dann gehandelt, wenn es nötig war? Hast du von denen etwas gelernt, die meine Gebote in die Praxis umgesetzt haben – obwohl sie sie vielleicht gar nicht kannten? Oder im falschen Tempel angebetet haben – wie der Mann „aus dem törichten Volk, das in Sichem wohnt“?

Fürbitten
Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter vor Augen formulierte Papst Franziskus: „Wir leben in einer Welt der Globalisierung der Gleichgültigkeit“. Gott, wir bitten dich:

So viele Bilder von menschlicher Not und Elend werden uns über das Fernsehen ins Wohnzimmer getragen - und doch bringen sie uns nicht zum Handeln …
Herr, erbarme dich
Wir kennen Menschen in unserer Umgebung, die Existenzängste und schweren Sorgen haben - und doch bringen sie uns nicht zum Handeln …
Herr, erbarme dich
Wir kennen Menschen, die aus ihrer Trauer keinen Ausweg finden und sich isolieren - und doch bringen sie uns nicht zum Handeln …
Herr, erbarme dich
Wir empfinden oft Mitleid mit Menschen, denen es nicht gut geht - und doch bringt es uns nicht zum Handeln …
Herr, erbarme dich


Pfarrer Stefan Mai

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