Das Wunder vor dem Wunder

Predigt zum 9. Sonntag im Jahreskreis (Lk 7,1-10)

Bei den Wundererzählungen im Neuen Testament haben die Exegeten verschiedene Klassifizierungen eingeführt: Da gibt es eine Vielzahl von Dämonenaustreibungen, in denen drastisch erzählt wird, wie Jesus mit den Dämonen ringt und sie austreibt. Eine ganze Anzahl von Krankenheilungen, wie z. B. die Heilung des Blinden oder der Schwiegermutter des Petrus. Eine Steigerung der Krankenheilungen sind die Totenerweckungen, zu denen z. B. das Töchterchen des Jairus oder der Jüngling von Nain gehören. Die Stillung des Seesturms rechnen die Bibelgelehrten zu den sogenannten Rettungswundern und die wunderbare Brotvermehrung zu den Geschenkwundern.
Beim heutigen Evangelium handelt es sich um eine besondere Art der Krankenheilung, um eine sogenannte Fernheilung. Denn da wird der Knecht des Hauptmanns aus der Ferne geheilt. Jesus kommt mit dem todkranken Knecht des Hauptmanns nicht direkt in Berührung, sondern das Wunder der Heilung ereignet sich schon auf dem Weg. Die Fernheilung - nochmals eine wunderbare Steigerung einer direkten Krankenheilung?

Vielmehr als diese Frage bewegt mich die Entdeckung, dass das eigentliche Wunder für mich bereits vor dem Wunder der Krankenheilung passiert. Die Fernheilung passiert erst, nachdem vorher schon einige kleine Wunder des Alltags geschehen waren.
Ist es nicht ein Wunder, dass sich ein Vorgesetzter, so fürsorglich und mit allen Tricks und Mitteln für einen kleinen, schlecht bezahlten Angestellten einsetzt?
Ist es nicht ein Wunder, dass sich ein römischer Hauptmann, der zur Besatzungsmacht in Israel gehört, von einem jüdischen Rabbi namens Jesus von Nazareth Hilfe erhofft und fromme Juden, sogenannte Älteste, um Vermittlung bittet?
Ist es nicht ein Wunder, dass gerade diese Ältesten, für die römische Sitten und Gebräuche ein Gräuel sind, für den Römer bei Jesus ein gutes Wort einlegen?
Ist es nicht ein Wunder, dass die Ältesten, mit denen Jesus in den Evangelien häufig im Clinch liegt, überhaupt zu Jesus gehen?
Ist es nicht ein Wunder, dass ein Römer, der sonst mit Steuern das Land auspresst und als reicher Veteran einmal wieder daheim ankommen möchte, sein Geld für ein jüdisches Gotteshaus ausgibt?

Mir kommt es vor, als wolle Lukas versuchen, seinen Zuhörern dies nahe zu bringen:
Ohne die Überbrückung des Abstandes zwischen Menschen, zwischen oben und unten, zwischen verfeindeten Nationen und Gruppen, ohne die Überbrückung von Vorurteilen, Feindschaft, Misstrauen und Ressentiments, wäre die Heilung des Knechtes vom römischen Hauptmann nicht möglich gewesen.
Es ist sicherlich kein Zufall, dass dieses Fernheilungswunder, wo Feindesgräben im Vorfeld überbrückt wurden, direkt im Anschluss an das Gebot zur Feindesliebe erzählt wird.
Will der Evangelist dadurch nicht deutlich machen:
Wo Menschen hinter sogenannten Feinden auch Menschen mit Hilfsbereitschaft entdecken,
wo ein Denken von oben und unten keine Rolle mehr spielt, sondern der Mensch im Mittelpunkt steht,
wo verfeindete Gruppierungen wieder aufeinander zugehen und miteinander sprechen,
wo Gegner sich wieder die Hände reichen und Hand in Hand arbeiten,
da wird nicht nur das oft so unerreichbar gesehene Gebot der Feindesliebe im Alltag praktiziert, sondern da sind Wunder des Lebens möglich?


Pfarrer Stefan Mai

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