Ist unsere Kirche noch ein Durstlöscher?

Predigt zum 7. Sonntag der Osterzeit (Offb 22,12-20)

Vor ein paar Tagen stieß ich auf eine nachdenklich machende Geschichte. Sie erzählt:

"Ein mächtiger König besaß die einzige Wasserquelle im ganzen Land. Weil er die Menschen liebte, lud er sie alle ein, zu dieser Quelle zu kommen und soviel Wasser zu schöpfen, wie es ihnen beliebte. In seinem Testament legte er fest, dass seine Erben dieses Wasser rein und unverfälscht an die Menschen der kommenden Generationen weiterzuschenken hätten.
Aber bald nach dem Tod des Königs erließen seine Erben die ersten Verordnungen über das Schöpfen an der Quelle - zu welchen Tageszeiten das Wasser abgegeben werde und in welcher Reihenfolge sich die Menschen anzustellen hätten.
Einige Generationen später verfassten die Erben eine Wasserrechtssatzung. Sie bestimmten Material und Fassungsvermögen der Schöpfgefäße, ebenso Kleidung, mit der die Menschen zum Schöpfen kommen mussten. Wer gegen die Richtlinien verstieß, wurde mit der Verringerung seiner Wasserration bestraft.
Ein anderer Nachfahre des Königs ließ um die Quelle einen großen Zaun errichten, der nur noch vier Zugänge freigab.
Ein paar Jahrhunderte später wunderten sich die Erben, dass nur noch wenige, meist ältere Leute, zur Quelle kamen. Trotz ihrer Bitte, doch zur alten, einzigen echten und reinen Quelle zurückzukehren, blieben die Menschen aus, bohrten ihre eigenen Quellen und bauten ihre eigenen Brunnen."
(aus: W. Raible, Predigten zum Lesejahr C, S.123f)

Beim Lesen dieser Geschichte habe ich mich gefragt. Ist diese Geschichte nicht ein Gleichnis für unsere Kirche?
Seit über 2000 Jahren gilt ihr die Einladung: „Wer durstig ist, der komme. Wer will, empfange umsonst das Wasser des Lebens!“ Sie ist eingeladen, Lebensdurst mit der erfrischenden und klaren Botschaft Jesu zu stillen. Und es ist ihr Auftrag, an Menschen ihrer Zeit diese Einladung weiterzugeben: Wer durstig ist, der komme! Wenn du Lebensdurst hast, in unseren heiligen Schriften und Gottesdiensten kannst du eine Kraftquelle entdecken. In unseren Gemeinden gibt es Lebensbrunnen, wo du auftanken kannst.

Aber ist es nicht so wie in der Geschichte: Viele Menschen haben den Eindruck: Anstatt Menschen es zu erleichtern, an die Quelle zu kommen, ihnen Tipps zu geben, wo und wie ich Lebenswasser im Alltag finden kann, hat Kirche im Lauf der Geschichte ein Monopol entwickelt, eine Art Besitzanspruch auf diese Lebensquelle und die Zugangswege zu dieser erfrischenden Botschaft festgelegt. Viele haben den Eindruck, im Lauf der Zeit habe Kirche die sprudelnde Quelle in viele Fläschchen von Formen und Formeln abgefüllt, wodurch das lebendige Quellwasser oft so leblos wirkt wie abgestandenes Wasser. Erleben wir zur Zeit nicht gerade den Schluss der Geschichte:
„Ein paar Jahrhunderte später wunderten sich die Erben, dass nur noch wenige, meist ältere Leute, zur Quelle kamen. Trotz ihrer Bitte, doch zur alten, einzigen echten und reinen Quelle zurückzukehren, blieben die Menschen aus, bohrten ihre eigenen Quellen und bauten ihre eigenen Brunnen.“

Ist es nicht wirklich so, dass die meisten Menschen heute ihre eigenen Quellen bohren und Brunnen bauen? Der Durst nach Leben und nach Lebenssinn ist im Menschen unausrottbar. Die Sehnsucht, Antworten auf die Fragen des Lebens zu finden, die wird in der Menschheitsgeschichte nie verloren gehen. Aber die Menschen lassen sich nicht vorschreiben, wo sie nach Quellen suchen.

Und Ist es nicht so, dass Menschen, die sich zu einer Wallfahrt nach Gößweinstein aufmachen darauf hoffen, ein paar Tropfen Lebenswasser mit in ihren Alltag hineinzunehmen. Ist es nicht so, dass Wallfahrten gerade wieder in unserer Zeit ein Bohrloch geworden sind, von dem man hofft, wieder Zugang zu dieser sprudelnden Lebensquelle zu finden. Begleitet nicht jeden Teilnehmer die Hoffnung, auf dem Weg hierher Worte zu hören, die erfrischend sind, die manches im Leben klären, die uns motivieren und neue Kräfte in uns frei setzen?

Ist es nicht so, dass Wallfahrer darauf hoffen, eine Gemeinschaft zu erleben, wo man sich einfach einhängen darf, wo man achtsam für den anderen wird, miteinander ins Gespräch über Fragen des Lebens kommt und Geborgenheit und Anerkennung spüren darf?
„Wer durstig ist, der komme. Wer will, empfange umsonst das Wasser des Lebens.“ Diese Einladung gilt seit 2000 Jahren. Diese Einladung glaubwürdig auszusprechen und zu vermitteln, diese Aufgabe hat unsere Kirche, zu der wir gehören, gerade in der heutigen Zeit. Eines ist klar: Die Frage nach einem erfüllten Leben, nach "Wasser des Lebens“ - die wird nie verstummen und ist auch in Zukunft die Chance der Kirche. Die Frage, ob in Zukunft wieder mehr Menschen diese Quelle im Raum der Kirche finden, ist dagegen völlig offen.


Pfarrer Stefan Mai

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