Was ist das für eine Stadt?

Predigt zum 6. Sonntag in der Osterzeit (Offb 21,9-22,5)

Manchmal frage ich mich: Was würde unserer Stadt eigentlich fehlen, wenn unsere Kirche Maria vom Rosenkranz nicht mehr stehen würde. Was würde es für unsere Stadt bedeuten, wenn anstelle der Kirche ein großer freier Platz wäre, eine Leerstelle, die erst noch gefüllt werden müsste? Was würden da heute Gerolzhöfer Bürger hinstellen, wofür würden sie bei einem Bürgerentscheid votieren? Für eine Kirche, für ein großes Einkaufszentrum, für eine moderne Wohnanlage mitten im Herzen der Stadt?
Was würde es für Gerolzhofen bedeuten, wenn die beiden mächtigen Türme als Wahrzeichen dieser Stadt nicht mehr von weitem sichtbar wären, wenn sie nicht mehr wie Zeigefinger hoch zum Himmel deuten würden, wenn Einheimische beim Einkaufen den Steigerwalddom nicht ständig im Blickfeld hätten? Hätte es Auswirkungen auf das Lebensgefühl der Menschen, Auswirkungen auf die Atmosphäre und Lebensqualität dieser Stadt? Was würde die wenigen Touristen, die nach Gerolzhofen kommen, noch anziehen? Was würde uns fehlen, wenn dieses Gotteshaus fehlen würde? Würde den meisten Menschen überhaupt etwas fehlen?

In der heutigen Lesung wurde uns eine Stadtvision vorgestellt, der Traum vom himmlischen Jerusalem. Was für eine Stadt! Da blitzt und funkelt es nur so vor Edelsteinen. Da sind schon die Grundsteine Edelsteine, die Mauer ist aus Jaspis gebaut, die Straßen der Stadt aus purem Gold.
Was für eine Stadt? Angelegt in einer traumhaften Symmetrie: Im Osten drei Tore, im Norden drei, im Süden drei und im Westen drei Tore. Und auf jedem Tor sitzt ein Engel. Die jüdische Dichterin Else Laske Schüler träumt in einem Gedicht von einer solchen Stadt. Es beginnt mit den Worten:
Ich suche allerlanden eine Stadt,
die einen Engel vor der Pforte hat...

Was für eine gigantische Stadt? Welch irre Maße! 12.000 Stadien breit, 12.000 Stadien lang, 12.000 Stadien hoch. Das ist eine irre Wolkenkratzer-Kubusstadt auf der Fläche des damaligen Römischen Reiches.

Aber dann kommt es wie ein Paukenschlag: „Einen Tempel sah ich nicht in der Stadt!“ Eine solch gigantisches himmlisches Jerusalem ohne Tempel, wo doch der Tempel mit dem Allerheiligsten in seiner Kubusform das Wahrzeichen der Stadt Jerusalem ist. Wie soll man diese Leerstelle im himmlischen Jerusalem deuten?
Der Seher Johannes gibt darauf selbst die Antwort: Diese Stadt braucht keinen Tempel mehr, denn Gott selbst ist ihr Tempel, die ganze Stadt ist in Gott daheim. Diese Stadt braucht keine Lichter, denn Gott erleuchtet sie mit seiner Herrlichkeit. Die Tore der Stadt sind immer geöffnet. Menschen aus aller Herren Lande dürfen hier einziehen, die Menschen verstehen sich, es werden keine Greuel verübt, und Lüge ist ein Fremdwort. Denn die Menschen, die hier wohnen sind im Lebensbuch des Lammes eingetragen. Das heißt: Diese Menschen haben das Lebensprogramm, die Ideen und Lebensregeln Jesu verinnerlicht und verwirklicht. Was Jesus als Reich Gottes verkündete, wie Gott sich eine menschliche Welt vorstellt, das ist den Bewohnern des himmlischen Jerusalems in Fleisch und Blut übergegangen. Deshalb braucht es in dieser Stadt keinen Tempel mehr.

Liebe Leser,
der Seher Johannes ist davon überzeugt: Kirche ist nur ein vorläufiges Provisorium, einstweiliger Notbehelf, nur zu Überbrückung eines noch nicht erreichten Zieles dienend. Kirche ist nie ein Selbstzweck, sondern hat immer die Aufgabe, auf etwas Größeres hinzuweisen, auf eine menschliche Welt, wie Gott sie sich vorstellt. Unsere Kirchen sind Orte, die uns ständig daran erinnern wollen. Und deshalb, meine ich, brauchen wir unsre Kirchen, weil sie uns ständig an die Lebensträume und Lebensregeln Jesu erinnern und uns klar machen: Von ihrer Verwirklichung sind wir noch weit entfernt.
Ich bin den vielen Generationen vor uns dankbar, die uns die Denkmale und Mahnmale unserer Kirchen mitten in die Herzen unserer Städte gesetzt haben. Ich wage mir es nicht auszumalen: Was wäre Gerolzhofen ohne unseren Steigerwalddom?


Pfarrer Stefan Mai

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