... damit er auf mich schaut

Predigt zum Karfreitag 2013

So manches Mal passiert es: Eine Wohnung wird aufgelöst. Vieles ist unbrauchbar, wird einfach entsorgt. Die Möbel sind aus der Mode, die Bilder verkitscht. Aber wohin mit den religiösen Gegenständen? Kreuze, eine Madonna, Heiligenbilder, Weihwasserkessel, ein paar alte Gesangbücher. Die traut man sich gewöhnlich nicht wegzuwerfen. Dann ruft man den Pfarrer an: „Sie können das doch sicherlich gebrauchen, in einem Zimmer im Pfarrheim aufhängen oder weiterverschenken.“
So ist es auch jenem Pfarrer ergangen, der erzählt: „Neulich habe ich ein richtig großes Kruzifix geschenkt bekommen. Ich ging damit durch alle Räume des Pfarrzentrums, fand aber keinen richtigen Platz: Es passte einfach in keinen Raum, es war zu riesig. Aber auf dem Weg in den Keller sah ich einen freien Haken an der Wand. Geschmackvoll fand ich diese Lösung gerade nicht. Aber wohin sonst mit dem Kreuz?
Am gleichen Abend dann stand Marcel vor mir. 200 Sozialstunden vom Jugendgericht musste er bei uns in der Gemeinde ableisten. Wir haben zuerst einmal gemeinsam den Jugendkeller aufgeräumt und kamen dabei immer wieder an dem Kreuz vorbei. Marcel fiel das Riesenkreuz auf – und er fragte vorsichtig an, ob denn dieser Platz im Keller der richtige Ort für das Kreuz wäre. Ich zeigte auf den Korpus und meinte: ‚Er hängt hier schon richtig. Er hat halt ein Auge auf unsere Jugendarbeit‘. Und ich erzählte Marcel die Geschichte von der Wohnungsauflösung.
Marcel gab sich damit zunächst zufrieden. Aber je näher wir uns kennenlernten, desto mehr traute sich Marcel auch Fragen zu stellen – über das Leben, nach meinem Glauben. Komischerweise immer dann, wenn wir an diesem Kreuz vorbeikamen. Und Marcel fing auch an, von sich selbst zu erzählen: vom Scheitern, vom Schulabbruch, von Spielen, die immer gefährlicher wurden, von Gewalt, die ihm schließlich die 200 Sozialstunden eingebracht hat.
Und als Marcel dann mit seinen 200 Stunden fertig war, hat er mich gefragt, ob er das Kreuz mitnehmen darf. Ich war erstaunt und zugleich verunsichert. ,Was willst du denn mit diesem riesigen Kreuz anfangen?‘ Und da sagte er mir: „Ich werde es in meinem Zimmer aufhängen, damit Gott auch auf mich schaut!“ Ich habe es noch vor Augen, wie er mit dem Kreuz auf der Schulter seiner Wege ging. Dieses Bild geht mir noch heute nach.“

Liebe Leser,
jeder von uns hat in seiner Wohnung ein oder mehrere Kreuze hängen. Meistens nimmt man sie gar nicht mehr wahr. Heute am Karfreitag stellen wir uns das Kreuz bewusst vor Augen, enthüllen Stück für Stück den Mann am Kreuz, schauen auf ihn und beugen vor ihm das Knie.
Ob uns nicht einer wie Marcel, der mit Kirche nichts mehr zu tun hat, die Botschaft vermitteln könnte: Es ist auch umgekehrt. Auch er schaut auf dich.



Pfarrer Stefan Mai

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