Du musst aber großen Durst haben!

Predigt zum 3. Fastensonntag (Joh 4,,5-42)

„Du musst aber großen Durst haben“, tönt es aus der leeren Kirche – und der kleine Pi erschrickt zu Tode. Heimlich hatte sich der Bub in die Kirche gestohlen, um eine Mutprobe zu bestehen. Sein Bruder hatte ihn dazu herausgefordert. Ihn, den für alles Religiöse Begeisterten: In einer indischen Hindu-Familie geboren, hat er sich nicht nur ganz entgegen der aufgeklärten Haltung seines Vaters für die Gebräuche und Feste der Hindu-Gottheiten interessiert, sondern auch für den Islam – und wird schließlich in einer Mutprobe zur Begegnung mit dem Christentum angestachelt.
„Da unten, siehst du die katholische Kirche?“, fragt ihn sein Bruder. „Wenn du Mut hast, dann schleiche dich hinein – und trinke den Weihwasserkessel leer!“
Pi macht es. Und als er gerade einen letzten kräftigen Schluck nimmt, hört er aus der leeren Kirche die Stimme hallen: „Du musst aber mächtig Durst haben!“ Er dreht sich um und sieht den Priester, der ihm ein Glas Wasser reicht und ihm dann von Jesus Christus erzählt, von dessen Leben überall in der Kirche Bilder zu sehen sind.
So wird es im Film „Das Leben des Pi“ erzählt.
Ja, wer an Jesus Christus glauben will, der muss großen Durst haben. Wie Pi.
Oder wie die Frau am Brunnen im Johannesevangelium.
Verblüffend: Genau so wie der Evangelist stellt der Regisseur eines modernen Films den Durst an den Anfang einer Glaubensgeschichte.
Ich meine: Wir könnten davon etwas lernen, wenn wir uns fragen: Wie geht das: Glauben an Jesus Christus. Und: Wohin führt das? Der Glaube an Jesus Christus.
Wenn ich auf den Jesus des Johannesevangeliums schaue, dann lautet die entscheidende Frage für einen, der sich auf den Glaubensweg macht: Hast Du Durst? Hast Du Lebensdurst? Fühlst du dich unzufrieden in deiner Haut? Spürst du, dass es mehr geben muss als den Alltagstrott? Sehnst du dich nach einem Leben, das dich innerlich ausfüllt? Regst du dich darüber auf, dass viele Menschen nicht zu ihrem Recht kommen – und niemand sich drum schert? Hast Du den brennenden Wunsch, dass sich etwas ändert in unserer Welt?
Wenn du diese Fragen mit „Ja“ beantwortest, dann bist du richtig bei diesem Jesus.
Denn der hatte ein Auge für die Sehnsüchte der Menschen: nach Gesundheit; nach Gemeinschaft; nach Anerkennung; nach Gespräch. Nach einem, der sieht, worunter ich leide – und für den ich wichtig bin.
Dieser Jesus lässt sich auf die Frau ein, die da um die heiße Mittagszeit zum Brunnen kommt. Er muss spüren, dass mit ihr etwas nicht stimmt. Dass sie eine Zeit wählt, in der sie sicher keiner anderen Frau begegnet, die sie schief anschauen oder eine unangenehme Frage stellen könnte. Die einfach in Ruhe gelassen werden will, weil sie die anderen ja doch nicht verstehen. Sie spricht er an. Und lockt sie förmlich dazu heraus, von ihren Sehnsüchten zu erzählen, von ihrem unstillbaren Lebensdurst.
So geht es an mit dem Glauben an Jesus Christus: Meine Sehnsüchte werden ernst genommen. Wer Lebensdurst hat und das Gefühl hat, dass er ihn einfach nicht stillen kann, der ist bei diesem Jesus Christus richtig.
Aber: Wer einmal in seine Fänge gerät, wer sich einmal auf ihn einlässt, der muss sich auch auf einiges gefasst machen. Denn dieser Jesus Christus deckt Lebenslügen auf. Lügen, mit denen wir versuchen, unseren eigenen Durst zu stillen – wie die Frau am Brunnen.
„Hol mir deinen Mann!“ Damit berührt Jesus den Punkt, an dem die Frau sich selbst etwas vormacht: einen Partner zu haben, ein Gegenüber, auf das man sich verlassen kann. Die Frau hat großen Durst danach – und stolpert von einer Enttäuschung zur anderen. Jesus legt diesen wunden Punkt bei ihr frei.
Und hört dann der Durst auf, wenn man sich von diesem Jesus entlarven lässt? Wenn man sich seine wahren Sehnsüchte von ihm entlocken und die Lebenslügen aufdecken lässt?
Nein, der Durst wird eher noch größer.
Ja, es scheint mir geradezu ein Kriterium des Glaubens zu sein: Immer mehr Durst bekommen nach erfülltem Leben – und immer sensibler werden dafür, wo ich mir selbst etwas vormache.
Und deshalb wären die entscheidenden Testfragen für einen gläubigen Menschen:
Glaubst du, dass es Sinn macht, sich nicht zufrieden zu geben mit dieser Welt, wie sie ist?
Glaubst du, dass es Sinn macht, sich von diesem Jesus ständig neu korrigieren zu lassen – und nie an ein Ende zu kommen?
Glaubst du, dass es Sinn macht, mit dem Blick Jesu auf diese Welt zu schauen, auch wenn du dafür belächelt wirst oder Widerspruch erntest?
Glaubst du, dass es Sinn macht, an die Möglichkeit einer Veränderung zu glauben, auch wenn die anderen nur den Kopf schütteln?
Glaubst du, dass es Sinn macht, immer wieder einen Anfang zu wagen, auch wenn der Erfolg ausbleibt?
Wenn du auf diese Fragen mit „Ja“ antworten kannst, dann bist du ein religiös Durstiger.
Und ich bin sicher: Diese religiös Durstigen sitzen mitten unter uns in dieser Kirche.

Liebe Leser,
„Du musst aber großen Durst haben“, sagte der Priester zu Pi. Wenn ich dem Johannesevangelium glaube, dann ist das alles, was man braucht, wenn man sich auf den Weg zu diesem Jesus machen will. Und dieser Durst nach Mehr bleibt auch für den Glaubenden der eigentliche Kompass für sein Handeln – genau wie es ein Taize - Lied in Worte gefasst hat/gedichtet hat:
In dunkler Nacht wollen wir ziehen,
lebendiges Wasser zu finden,
nichts als der Durst soll uns leiten.

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Pfarrer Stefan Mai

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