Erfahrungen vererben sich nicht

Predigt zum 2. Fastensonntag

Was wird nicht alles durch das genetische Erbgut vererbt: das Aussehen, die Körpergröße, die Struktur und Farbe der Haut und der Haare, die Intelligenz, eine gute Gesundheit und auch bestimmte Krankheitsbilder. So manchmal hört man Menschen sagen: Des habe ich vom Vater mitbekommen oder der geht ganz nach seiner Mutter.

Vieles lässt sich auf Erbanlagen zurückführen. Aber das Leben ist dadurch nicht total programmiert. Der Schriftsteller Kurt Tucholsky meinte einmal: „Erfahrungen vererben sich nicht.“
Da kann ein Vater noch so in seinem Lehrer-Beruf aufgegangen sein, weil damit für ihn die Erfahrung von Sinn und ein Stück Selbstverwirklichung einhergegangen ist, und trotzdem würde es seinem Sohn nie einfallen, auch Lehrer zu werden. Da kann die Mutter noch so begeistert Klavier spielen und die halbe Stunde am Klavier für sie zu den schönsten Augenblicken des Tages gehören und trotzdem war es vergebliche Müh´ und Plage, in ihrer Tochter die Liebe zur Musik zu wecken.
Noch zutreffender ist das Tucholskywort in Glaubensdingen. Da mögen die Eltern den Glauben als das größte Geschenk ihres Lebens sehen, Kirche als Heimat empfinden, sich in Kirchenräumen und Gottesdiensten noch so wohl fühlen, an die Kinder vererben können sie dieses religiöse Empfinden nicht, so gern sie es wollten.
Erfahrungen vererben sich eben nicht. Ich meine, das gilt für alle Erfahrungen, die Erlebnisqualität haben. Das gilt für alle Taborstunden. Für alle Stunden, in der für einen Menschen die Erde wackelt, für alle Momente, in denen Menschen tiefstes Glück spüren, für alle Lebenssituationen, die wir einfach für immer festhalten möchten und tief da drinnen spüren: Es ist alles gut. So müsste es bleiben.
Die Erfahrung dieser glückseligen Stunde, die Petrus, Jakobus und Johannes auf dem Berg Tabor gemacht haben, prägte ihr eigenes Leben, aber vererben konnten sie diese Erfahrung sicherlich nicht.

Und doch sind solche Taborstunden bis heute Schlüsselszenen im Leben von Menschen. Stunden, die große Wirkung im Leben haben.
Der Lehrer wird von seiner ehemaligen Schülerin Franziska zum Schulabschluss eingeladen. Franziska hat den Quali hervorragend bestanden. Sie weiß, ohne diesen Lehrer aus der 6. Klasse wäre sie nie auf die Spur gekommen, dass in ihr große Begabungen stecken. Sie hat Freude am Lernen entwickelt und dadurch ist ihr Selbstbewusstsein enorm gestiegen. Und der Lehrer ist an diesem Abend ergriffen, welche selbstbewusste Jugendliche mit einer großen sozialen Ader jetzt da vorne steht und die Abschlussrede hält. Eine Taborstunde im Leben des Lehrers, der auf die Pension zugeht. Eine Taborstunde im Leben der Jugendlichen.

Sie kennen sich schon seit Jahren, aber eigentlich wissen sie nicht viel darüber, was sie denken, was sie fühlen, was die inneren Sehnsüchte und die geheimen Ängste sind. Aber an diesem einen Abend im Urlaub, bei einem Glas Wein in einer einfachen Taverne, da lassen sie sich gegenseitig in ihr Herz blicken. Eine Taborstunde in der Beziehungsgeschichte der beiden Verliebten.

Tucholsky hat recht: Vererben lassen sich solche Erfahrungen nicht, sie sind Geschenk, lassen sich nicht erarbeiten, sind überhaupt nicht planbar. Aber sie sind bis heute die großen Einflugschneisen Gottes, Situationen, wo Menschen zutiefst angerührt sind und vielleicht eine leise Ahnung in sich spüren: Da hat noch ein anderer seine Hände mit im Spiel


Pfarrer Stefan Mai

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