Das innerste Pünktlein

Neujahrsansprache in Frankenwinheim

Martin Buber erzählt in seinen Geschichten der Chassidim folgende Begebenheit:
Rabbi Jizchak erging sich einmal an einem Spätsommerabend mit seinem Enkel im Hof des Lehrhauses. Er fragte, ob man heute den Schofar geblasen habe, wie es geboten ist, ein Monat ehe das Jahr sich erneut. Danach begann er zu reden:
"Wenn einer Führer wird, müssen alle nötigen Dinge da sein, ein Lehrhaus und Zimmer und Tische und Stühle, und einer wird Verwalter, und einer wird Diener und so fort. Und dann kommt der böse Widersacher und reißt das innerste Pünktlein heraus, aber alles andere bleibt wie zuvor, und das Rad dreht sich weiter, nur das innerste Pünktlein fehlt".
Der Rabbi hob die Stimme: "Aber Gott helfe uns. Man darf´s nicht geschehen lassen".

In Angleichung an diese geheimnisvolle Geschichte möchte ich formulieren:
Wenn eine politische Gemeinde oder eine Pfarrgemeinde funktionieren soll, müssen alle nötigen Dinge da sein: Ein Rathaus, eine Kirche, Versammlungsräume, Tische, Stühle. Gemeinderäte, Pfarrgemeinderäte, Kirchenverwaltungsmitglieder, Gemeindearbeiter, Vereinsvorstände, Menschen, die sich in Vereinen oder der Pfarrgemeinde auf den verschiedensten Aufgabenfeldern engagieren. Aber das ist nicht alles.
Was wurde in den letzten Jahren alles an guten äußeren Voraussetzungen und Bedingungen für ein funktionierendes Pfarreileben geschaffen. Wir haben ein ansprechendes Gotteshaus mit einem neu gestalteten Altarraum, eine renovierte Orgel, ein tolles Begegnungszentrum und damit beste äußere Voraussetzungen wie sie kaum in anderen - von der Größe her vergleichbaren - Gemeinden zu finden sind. Aber so die jüdische Geschichte: Wenn alles steht, wenn alles da ist, dann müssen wir aufpassen, dass nicht der böse Widersacher kommt und das innerste Pünktlein herausreißt. Was heißt das?

Ich meine, das heißt für uns in Frankenwinheim: Du kannst die besten Bedingungen vorfinden und haben, aber wenn der richtige Geist fehlt, wird alles leerer Betrieb.
Das heißt: Unser Begegnungszentrum wird nur zu einem echten Begegnungszentrum, wenn Menschen sich im Dorf auch gern begegnen, wenn Vorbehalte gegeneinander, Verdächtigungen und Cliquenbildung, die einteilen und ausgrenzen, wenig Chancen haben. Es wird erst zu einem echten Begegnungszentrum, wenn Gemeinschaftsgeist, überpfarreiliches, übervereinsmäßiges Denken Hausrecht und ein guter Geist Wohnrecht in den Mauern hat und die Atmosphäre bestimmt.
Rabbi Levi Jizchak hat Angst, dass das innerste Pünktlein herausgerissen wird, dass alles scheinbar funktioniert, aber es hohl wird, ein Betrieb ohne Geist.
Ich glaube, das innerste Pünktlein, das, was eine Pfarrgemeinde zusammenhält, heißt: Enthusiasmus. Für den Dichter Christian Morgenstern war dies das schönste Wort auf der Erde. Enthusiasmus, die Begeisterung, die Freude an etwas, der Einsatz für eine Sache. Das Wort Enthusiasmus kommt aus dem Griechischen: Enthusiamus - en theos - in Gott. Das innerste Pünktlein eines Pfarreibetriebes: Die Verankerung in und die Begeisterung für Gott, die Freude am Glauben, Mitmachen, weil mir persönlich der Glaube und die Weitergabe des Glaubens wichtig ist. Wo dieses innerste Pünktlein fehlt, fehlt das Entscheidende, gerät alles durcheinander.
Der Rabbi hob seine Stimme: „Aber Gott helfe uns. Man darf´s nicht geschehen lassen.“
Gott helfe uns in diesem Neuen Jahr, stets nach diesem innersten Pünktlein zu suchen und zu fragen. Dann kann von diesen Gebäuden auf dem Kirchberg in Frankenwinheim Leuchtkraft ausgehen. Dann kann wahr werden, was uns Jesus Christen in der Bergpredigt zutraut: „Ihr seid das Licht der Welt. Eine Stadt, die auf dem Berg liegt, kann nicht verborgen bleiben.“ (Mt 5,14)

Stefan Mai


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