Das Päckchen des lieben Gottes

Predigt zum Weihnachtsfest 2012 (Tit 2,11)

Einleitung
Der Zufall ist das Pseudonym, das der liebe Gott wählt, wenn er inkognito bleiben will, schreibt der Theologe und Urwaldarzt Albert Schweitzer.
Was er damit meint: Wenn Menschen etwas erleben, das sie sehr berührt, was sie überrascht, verändert – und ihrem Leben vielleicht eine ganz andere Wendung gibt, dann sagen die einen: Das war Zufall. Und die anderen bringen es mit Gott in Verbindung. Aber eines ist klar: Meistens kommt Gott inkognito.

Predigt
Gestern Abend gab es Geschenke. Schön verpackt lagen sie unter dem Weihnachtsbaum. Bei dem einen oder anderen konnte man schon von Ferne ahnen: Ah, das ist für mich. Und beim Öffnen wusste man schon im Voraus, was drin ist. Aber sicher gab es auch Überraschungen.
Ich erzähle Ihnen heute eine Geschichte von einem ganz besonderen Weihnachtsgeschenk. Sie spielt in Chicago während der Weltwirtschaftskrise im Winter 1929/30. Bert Brecht hat sie verfasst:
Viele haben keine Arbeit mehr; und wer eine hat, hat Angst sie zu verlieren. Immer neue Nachrichten von Konkursen erschüttern die Sicherheit der Menschen. Es ist also kein Wunder, dass sich eine von Gleichgültigkeit und Zynismus getragene Stimmung breit macht.
Männer und Frauen sitzen in den Lokalen, trinken Whisky und versuchen auf ihre Weise mit ihrer Hoffnungslosigkeit irgendwie zurechtzukommen. Solch eine Stimmung herrschte auch in jenem kleinen Lokal, das am Rande des Schlachthofviertels von Chicago gleich neben der U-Bahn zu finden ist.
An diesem Weihnachtsabend war es noch überfüllter als an den übrigen Tagen. Der Whisky war noch wässriger und das Publikum noch verzweifelter. Keiner kann genau sagen, ob es Langeweile oder einfach nur der Wunsch war, der eigenen Wut und Ohnmacht Ausdruck zu verleihen: Die Männer und Frauen in jenem Lokal kamen auf die Idee, eine Weihnachtsbescherung für einige aus dem Lokal zu veranstalten. Nachdem sie dem Wirt schmutziges Schneewasser zum Whiskyverlängern, einem Mädchen ein Taschenmesser zum Abkratzen seiner Puderschicht vom Gesicht geschenkt hatten, fiel den Männern dann für einen der Gäste im Lokal ein Geschenk ganz besonderer Art ein. Dieser Mann gehörte zu den Stammkunden des Lokals und alle kannten ihn. Er redete nie. Von Zeit zu Zeit sah er ängstlich auf. Es war, als würde er sich vor etwas oder jemandem verstecken.
Die Männer beschlossen also, aus einem alten Adressbuch drei Seiten herauszureißen. Auf ihnen waren lauter Polizeiwachen verzeichnet. Sie schlugen diese sorgfältig in eine Zeitung, verschnürten das Päckchen und überreichten es schließlich dem Mann. Dieser nahm das Geschenk zögernd entgegen. Er befühlte es mit den Fingern. Es war, als wolle er möglichst schon vor dem Öffnen feststellen, was darin sein könnte. Dann machte er es rasch auf. Plötzlich geschah etwas sehr Merkwürdiges. Sein Blick fiel auf das Zeitungsblatt, in das die Adressbuchblätter geschlagen waren. Sein ganzer Körper schien sich plötzlich um das Zeitungsblatt zu krümmen. Er bückte sein Gesicht tief herunter und las. Er schien die Zeilen geradezu zu verschlingen. Und dann schaute er auf. Es wurde ganz still in dem Lokal, denn niemand hatte je einen Menschen so strahlen sehen wie diesen Mann. „Da lese ich in der Zeitung“, sagte er mit einer verrosteten, mühsam ruhigen Stimme, „dass die ganze Sache einfach schon lange aufgeklärt ist. Jedermann in Ohio weiß, dass ich mit der ganzen Sache nicht das Geringste zu tun hatte.“ und dann lachte er. Alle im Lokal begriffen, dass der Mann unter falscher Beschuldigung gestanden und inzwischen, wie er aus dem Zeitungsblatt erfahren hatte, rehabilitiert worden war. Plötzlich lachten alle im Lokal mit und die gewisse Bitterkeit, mit der dieser Abend begonnen hatte, war vergessen. Es wurde ein ausgezeichnetes Weihnachtsfest, das bis zum Morgen dauerte und alle zufrieden werden ließ.
Und als Kommentar schreibt Brecht am Ende seiner Geschichte: „Es spielte keine Rolle mehr, dass dieses Zeitungsblatt nicht die Männer im Lokal ausgesucht hatten, sondern Gott“.

Liebe Leser,
der Dichter Bert Brecht hat für mich in meisterhafter Art in einer profanen Sprache, in einer Geschichte an einem „gottlosen“ Ort ohne fromme Floskeln ins Heute übersetzt, was der große Theologe Johannes mit seinen gewichtigen Sätzen meint: „Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt und wir haben seine Herrlichkeit gesehen.“

Fürbitten

Wir feiern an diesen Tagen die Geburt Jesu von Nazareth als großes Geschenk für unsere Welt. Wir bitten Gott:

Für alle, die mit viel Überlegung, Liebe und Vorfreude Geschenke für liebe Menschen ausgesucht und zum Zeichen der Wertschätzung weitergegeben haben

Für alle Menschen, die enttäuscht sind, weil sie kein Weihnachtsbrief erreicht hat oder sie von Menschen völlig vergessen wurden

Für alle, denen in Begegnungen mit Menschen etwas von deiner Güte und Menschenfreundlichkeit aufgegangen ist

Für die Männer und Frauen, die in Gefängnissen sitzen und für die Menschen, die ihnen mit einem Geschenk eine Freude machen wollen


Für unsere Toten, die wir in deiner Gemeinschaft geborgen wissen. In diesem Gottesdienst denken wir an ...............


Darum bitten wir durch Christus, unsern Herrn


Pfarrer Stefan Mai

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