Vom Himmel hoch, da komm ich her

Predigt zur Weihnachtsmette 2012

Einleitung
Stellen Sie sich vor: Vor der Kirche wäre heute ein Reporter gestanden, hätte Ihnen das Mikrophon vor die Nase gehalten und hätte Sie gefragt: Warum gehen Sie Weihnachten noch in die Mette? Was hätten Sie geantwortet?
Ich kann mir vorstellen, dass Antworten so hätten ausfallen können:
INTERVIEWER: Darf ich Ihnen eine Frage stellen: Warum gehen Sie Weihnachten noch in die Mette?
JUGENDLICHER: Ich sag’s Ihnen ehrlich: Da vorne laufen meine Eltern. Wenn ich nicht mitgegangen wäre, hätten wir den größten Krach daheim. Der Hausfrieden wäre total gestört. Meine Mutter liegt mir schon seit Wochen in den Ohren: „Gell, den Gefallen tust du uns, dass du wenigstens an Weihnachten mit in die Mette gehst!“ Also: Jetzt wissen Sie’s, warum ich da bin.
INTERVIEWER: Darf ich Ihnen eine Frage stellen: Warum gehen Sie Weihnachten noch in die Mette?
ERWACHSENER: Ach, wissen Sie: Wochenlang höre ich jetzt schon dieser Liedergesumse. Dieses Potpourri von „Leise rieselt der Schnee“ über „Jingle Bells“ bis „Stille Nacht“. Ich kann diesen süßlichen Kitsch nicht mehr hören. Ich habe jetzt vier Weihnachtsfeiern hinter mir. Im Sportverein. Von der Arbeit. Vom Großen in der Schule. Und von der Kleinen im Kindergarten. Die einen reden frömmer als die Pfarrer. Die anderen machen die reinsten Faschingsveranstaltungen draus. Mir reicht’s: Heute Abend möchte ich wenigstens eine Stunde Ernsthaftigkeit.
INTERVIEWER: Darf ich Ihnen eine Frage stellen: Warum gehen Sie Weihnachten noch in die Mette?
ÄLTERE FRAU: Ach, was tu ich am Heiligen Abend allein daheim? Der ist lang genug. Bis da die Zeit vergeht. Da kommt man sich noch verlorener vor als sonst. Da stehen mir nur die Gesichter vor Augen von denen, die nicht mehr da sind. Oder ich denk’ an die schöne Zeit, wo die Kinder noch klein waren. Und da könnt’ ich grad ’naus heulen. Ich freu’ mich auf die Stunde jetzt in der Kirch’. Da bin ich wenigstens unter Leuten – und kann die Weihnachtslieder mitsingen.
Kyrie: Meine engen Grenzen (mit Vorsänger)

Predigt
Bänkelsänger treten auf (mit Kranzlied)
„Ich kumm aus frembden landen her
und bringe euch vil der neuen mär.
Der neuen mär bring ich so vil,
mer dann ich euch hie sagen will.“

So kamen die Bänkelsänger im Mittelalter in die Dörfer und Städte und erzählten die Neuigkeiten, die sie unterwegs aufgeschnappt hatten. Damit lockten sie die Leute aus den Häusern. Denn neugierig waren die Menschlein schon immer. In den Städten gab es sogar Wettbewerbe für die Bänkelsänger: Wer seine Geschichten möglichst spannend und lustig zugleich vortrug, wurde mit einem Kranz ausgezeichnet. Und wer bei diesem Kränzelsingen mitmachen wollte, begann seinen Vortrag immer mit dieser Bänkelsänger-Ansagestrophe: „Ich kumm aus frembden Landen her und bringe euch vil der neuen mär. Der neuen mär bring ich so vil, mer dann ich euch hie sagen will.“
Wenn heute Bänkelsänger in unsere Stadt kämen, würden sie vielleicht so singen:
Bänkelsängerlied (mit allen Strophen)
In Wittenberg in Thüringen hat auch Martin Luther solche Bänkelsänger erlebt und gemerkt, dass die Leute einen Heidenspaß daran hatten – und besser zuhörten als bei der Predigt in der Kirche. Und da hatte Luther, der den Leuten immer aufs Maul schauen wollte, eine geniale Idee: Er schrieb ein Weihnachtslied, das daherkommt wie ein Bänkelsängerlied. Genauso lässt er es beginnen: mit der Bänkelsänger-Ansage-Strophe. Allerdings kommen seine Bänkelsänger vom Himmel. Es sind Engel. Er lässt sie auch in den Tönen von oben nach unten steigen:
Orgel spielt leise die Melodie „Vom Himmel hoch“ (GL 138) – Text wird gesprochen
„Vom Himmel hoch, da komm ich her und bring euch eine neue Mär …“
Luther wollte die Menschen neugierig machen. Sie sollten die alte Botschaft mit neuen Ohren hören: die Weihnachtsgeschichte vom Kind in der Krippe, den Engeln und den Hirten.
Luther kleidet die alte Geschichte in ein neues Gewand. Ein mutiger Schritt: Er greift eine Gassenhauermelodie auf, um für die fromme Erzählung wieder neue Aufmerksamkeit zu erreichen. Das Alte sollte ungewohnt klingen und aufhorchen lassen.
Ich möchte mir an Luther ein Beispiel nehmen. Ich greife seine – für uns inzwischen altbekannte Melodie auf – und unterlege sie mit einem neuen Text: in einer Sprache ohne fromme Floskeln. Hören Sie einmal zu:
Instrumentale Begleitung (nach jeder Strophe letzter Takt als Zwischenspiel)
Aus Nazaret da stammt er her.
Ihn zu erraten ist nicht schwer.
Es ist ein kleiner Handwerksohn.
Jesus heißt er; ihr wisst es schon.

Fürs Handwerk hat er nie geschwärmt.
Und hat auch nie was Gescheits gelernt.
Bald sagt er: Ciau, jetzt hau ich ab,
zum See Gennesaret hinab.

Daheim die Mutter weinet sehr.
Mit Freunden streunt er im Land umher.
Es nimmt mit ihm kein gutes End.
Der Mann, der hat zwei linke Händ.
Er zieht auch nur Geschwartel an,
Verdächt’ge Frauen schleichen sich ran.
Er frisst und säuft im Zöllnerhaus
Mit bunten Vögeln. Welch ein Graus!

So gut er’s mit den Kleinen kann,
Legt er sich mit den Großen an.
Er macht sie zudem ganz schön rund,
Bis denen wird es bald zu bunt.

Auch mit den Frommen kann er’s nicht.
Er sagt es ihnen ins Gesicht:
Das ist doch alles Heuchelei
Und oft nur frommer Einheitsbrei.

Er träumt von einer neuen Welt,
Wo jeder zu dem anderen hält.
Wo man sich gegenseitig stützt,
Und jeder auch dem anderen nützt.

Du brauchst nicht spinnen und nicht sä’n,
lass einfach alles lieg’ und stehn.
Wenn Menschen miteinander teil’n,
Da ist das Glück von selbst daheim.

Wenn unsereins nur schafft und rennt,
Sagt er: Mir wird’s von Gott geschenkt.
Und denkt: Was stresst ihr euch da ’nei.
Schaut mich an: Ich bin froh und frei!
Nach drei Jahr’ war sein Traum zerplatzt,
Man sagt: Jetzt ist er bald verratzt.
Er in die Händ’ der Häscher fällt,
Verlassen von Gott und der Welt.

Am Kreuz schreit er sein’ Frust heraus,
für fromme Ohren welch ein Graus.
Mal ehrlich: Was hat er davon?
Am Ende bleibt nur Spott und Hohn.

Ich hab gedacht: Es ist zu End.
Wo man ihn doch ans Kreuz gehängt.
Und was man nicht für möglich hält:
Sein Traum läuft heut’ noch um die Welt.

Der Traum von einer anderen Welt,
Der wird auch heute noch erzählt.
Wollt ihr auch solche Spinner sein?
Ich lad’ euch herzlich dazu ein.

Ich hab gesung’n die alte Mär,
hab sie gebracht neu zu Gehör.
Und sollt sie euch zu Gefallen sein
so stimmet nun recht fröhlich ein:


Fürbitten

Wir haben wieder die uralte Botschaft gehört: Ein Kind ist uns geboren. Wir möchten von der Bedeutung dieser Botschaft für unser Leben neu ergriffen werden. Wir bitten dich:

Für alle, die in diesen Stunden die Gottesdienste in unserem Land besuchen: dass ihr Herz von Freude ergriffen und ihr Glaube gestärkt wirkt

Für alle, die in Predigten die Bedeutung der alten Botschaft für heute in den Weihnachtsgottesdiensten neu aufschließen möchten: dass ihnen selbst diese Botschaft nahe geht und ihnen Phantasie geschenkt wird, diese alte Botschaft neu zum Leuchten zu bringen

Für alle Menschen, denen es zur Zeit nicht gut geht, die große Sorgen haben oder unter Krankheit leiden: dass es Worte in Liedern oder von Menschen gibt, die ihnen gut tun

Für alle Familien, denen in diesen Tagen ein Kind geboren wird: dass sie sich über die Geburt freuen dürfen und ihrem Kind Geborgenheit schenken können

Für unsere Toten.
In diesem Gottesdienst beten wir für ........................................:
dass ihr menschliches Leben bei dir zur Vollendung kommt

Darum bitten wir durch Christus, unsern Herrn


Pfarrer Stefan Mai

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