Katholische Morgenfeier zum 4. Adventssonntag 2012

Thema: Im Wiegetakt

„Letzthin, im Zug, direkt neben dir, das elend-fröhliche Digitalpiepsen eines Handys, und du weißt, jetzt wirst du die Seite nicht in Ruhe zu Ende lesen können, du wirst mithören müssen, wo die Unterlagen im Büro gesucht werden sollten oder warum die Sitzung auf die nächste Woche verschoben ist, oder in welchem Restaurant man sich um 19 Uhr trifft, kurz, du bist auf die unüberhörbaren Schrecknisse des Alltags gefasst - und da kramt der junge Mann sein Apparätchen aus der Tasche, meldet sich und sagt dann laut: „Nein! - Wann? - Gestern Nacht? - Und was ist es? - Ein Bub - So herzig! 3 ½ Kilo? - Und wie geht es Jeanette? - So schön! - Sag ihr einen Gruß, gell! - Wie? - Oliver?....“
Der Erzähler Franz Hohler schließt sein Essay, das im beliebten Adventskalender „der Andere Advent 2012/2013“ unter dem Titel „Die Verkündigung“ zu finden ist, mit den Worten: „Und über uns alle, die wir in der Nähe sitzen und durch das Gespräch abgelenkt und gestört werden, huscht ein Schimmer von Rührung, denn soeben haben wir die uralte Botschaft vernommen, dass uns ein Kind geboren wurde.“

Weihnachtslieder CD, Vol. 2, Nr. 2 Zu Bethlehem geboren...1.+2. Strophe

In wenigen Tagen feiern wir wieder diese uralte Botschaft, dass uns ein Kindlein geboren wurde. In wievielen Liedern wird diese Botschaft besungen. In wievielen Melodien, die zu Herzen gehen. Mit welch herzenden Worten. Eine Gattung der Weihnachtslieder hat es mir besonders angetan. Es sind die weihnachtlichen Wiegenlieder, zu denen auch das Lied „Zu Bethlehem geboren“ gehört.

Weihnachtslieder im Wiegetakt

Diese weihnachtlichen Wiegenlieder haben eine besondere Geschichte. Sie gehen auf den Brauch des Kindelwiegens zurück. Frauenklöster im Mittelalter waren die genialen Erfinder dieser Tradition des weihnachtlichen Kindelwiegens. Ein Christkind - meist aus Wachs - wurde am heiligen Abend in eine Wiege gelegt und im Rahmen eines klösterlichen Krippenspiels im Wiegetakt in den Schlaf geschaukelt. Im Mittelalter war Weihnachten noch kein Familienfest, das man zu Hause feierte. Da blieben die Menschen zwischen den Gottesdiensten der Heiligen Nacht in der Kirche zusammen. Sie erzählten sich leise Geschichten und sangen Weihnachtslieder, Wiegenlieder. So als ob man Maria und Joseph beim Wiegen des Kindleins Gesellschaft leisten wollte, wie in dem bekannten Lied „Josef, lieber Josef mein“. Da bittet Maria Josef, den Kleinen zu wiegen:
Josef, lieber Josef mein,
hilf mir wiegen mein Kindelein!
Gott, der wird dein Lohner sein
im Himmelreich,
der Jungfrau Sohn Maria.


Und Josef antwortet:
Gerne liebe Muhme mein,
helf´ich dir wiegen dein Kindelein!
Gott, der wird mein Lohner sein
im Himmelreich,
der Jungfrau Kind, Maria.


Beim Kindelwiegen durften Kinder und Kirchenbesucher an die Wiege und im Takt der Musik das Kindlein wiegen und dabei die refrainartigen Rufe „Eia, eia, susani susani susani“ mitsingen, wie z. B. im Lied „Vom Himmel hoch, o Englein, kommt!“

Weihnachtslieder CD, Vol. 1, Nr. 4: „Vom Himmel hoch, o Englein, kommt!“

Vielleicht haben Sie selbst schon dieses Kosewort „eia“ beim Sprechen mit einem kleinen Kind benutzt. Eia - ein Ausdruck der Verwunderung, ein Streichelwort aus zwei Lauten, die das geliebte Menschlein ganz vorsichtig berühren, wie es auf ihre Weise auch die Melodie tut. Wenn bei uns im Fränkischen eine Mutter zu ihrem Kind sagt: „Ich gab der e ei“, dann hat das nichts mit dem Verschenken eines Hühnereis zu tun. Die Mutter nimmt dabei das Kind in die Arme und drückt zart ihre Wange an die Wange des Kindes und herzt es. Vom weihnachtlichen Kindelwiegen lassen sich auch die rätselhaften Rufe „Susani, susani, susani“ erklären. Sie gehen zurück auf die alten Worte „susen“ für „Summen, leise Singen“ und „Ninne“ für „kleines Kind“. „Susani“ ist also der zärtliche, einlullende Singsang einer Mutter. Alte deutsche Wörterbücher verzeichnen noch den Begriff „Susaninne“ für „Wiegenlied“ und Martin Luther fordert in seinem bekannten Weihnachtslied „vom Himmel hoch“ am Ende auf: „Davon ich allzeit fröhlich sei, zu springen, singen immer frei das rechte Susaninne schön, mit Herzenslust den süßen Ton.“

Wenn man bedenkt, in welcher Zeit diese einfachen schlichten Lieder entstanden sind, sollte man sich davor hüten zu meinen: Das ist halt süßlicher eia-popeia-Kitsch, der nur dazu dient, die Menschen einzulullen und zu einem weihnachtlichen Gefühlschristentum zu verleiten, das über die Härte und die Sorgen des Lebens hinwegtröstet. Der Autor der beiden gehörten Wiegenlieder war Friedrich von Spee. Er schrieb diese Lieder in einer brutalen Zeit, während des 30-jährigen Krieges, als die Hexen-Scheiterhaufen brannten, zu denen Friedrich Spee viele unschuldige Frauen begleiten musste. Und wenn das Lied „Zu Bethlehem geboren“ wirklich seinen Ursprung dem Erlebnis verdankt, dass Friedrich Spee eine junge Frau besuchte, die er vor dem Scheiterhaufen retten konnte - und diese ein neugeborenes Kind in den Armen hielt, sagt das mehr als tausend Worte.

Was mich an diesen Weihnachts-Wiegenliedern so fasziniert: Sie drücken eine herzliche Beziehung zum Jesuskind aus, bringen den rauen Wind des Lebens zur Sprache, vor dem sie schützen möchten, und erzählen von der Verbundenheit mit diesem Kind, aus der heraus sie das Leben bewältigen möchten. Hören wir mit diesen Gedanken in das weihnachtliche Wiegenlied „Schlaf mein Kindelein“ hinein.

CD Wiegenlieder Vol, 1, Nr.10 Schlaf mein Kindelein

Die Weisheit der Wiegenlieder

„Schlaf, Kindlein, schlaf!“ Seit Urzeiten und in allen Kulturen der Welt befolgen Eltern diesen Ratschlag und singen ihre Babys in den Schlaf. Auch wenn heutzutage Wiegenlieder Kindern nicht mehr automatisch in die Wiege gelegt werden, sind doch auch in unserer Zeit für viele Kinder Wiegen- und Schlaflieder der erste intensive Kontakt mit Musik. Von den Eltern gesungen oder gesummt, von der Spieluhr oder dem CD-Player vorgespielt, gehören Wiegenlieder in vielen Familien zum festen Ritual des Bettgehens. Den ganz Kleinen kann das Singen helfen, in den Schlaf zu finden, und auch den größeren Kindern vermittelt das Vorsingen ein Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit. Eltern spüren intuitiv die beruhigende Wirkung der singenden Stimme auf ihr Kind. Und es ist sogar wissenschaftlich belegt, welcher Segen der abendliche Ritus eines Wiegen- und Schlafliedes für ein Kind ist.

"Mama, komm singen!" Antonia sitzt auf ihrem Bettchen. Mama weiß, Antonia hat es geschafft, die Zähne zu putzen und in ihr Nachthemd zu schlüpfen. Zwei erwartungsvolle Augen blitzen sie an. Mama geht das Herz auf und sie singt. Ein besonderer Moment für Mama und Kind, der beide den Trubel des Tages vergessen lässt und vertrauensvolle Bindung schafft.

Wiegenlieder Vol. 2, Nr. 7 Schlaf, Kindlein schlaf

Und Antonia nimmt ihr Kuscheltier, ein kleines Schäfchen, drückt es an sich und schläft ein. Mir fällt auf, dass viele der Kuscheltiere, die Kinder gern mit ins Bett nehmen, in den Wiegenlieder eine große Rolle spielen: Schäfchen, Hasen, Mäuschen und Hütehunde.

Kinder brauchen Gute-Nacht-Rituale, die ihnen den Übergang von den Aufregungen und Beschäftigungen des Tages zu einer Phase der Ruhe und Stille erleichtern.
So manche Eltern können ein Lied davon singen, wie viel Stress, Ärger und Streit es manchmal geben kann, bis die Kleinen endlich im Bett sind. „Bitte, bitte darf ich noch zehn Minuten aufbleiben?“ „Ich kann doch jetzt noch nicht aufhören mit dem Zusammenbauen, sonst fällt mein Turm ein!“ „Nur noch dieses eine Spiel, dann gehe ich ins Bett.“
Drohende Aufforderungen sind daneben: „Marsch, jetzt aber ohne Widerspruch ins Bett!“ Ein gute Nacht Ritual soll freundlich und einladend sein. Eine beschauliche Stimmung regt Kinder meist an, von ihren Erlebnissen, Sorgen und Wunschvorstellungen zu erzählen.
Wenn alles ruhiger wird, es draußen dunkel wird, dann kommen manchmal in Kindern auch Befürchtungen, Sorgen und Ängste hoch. Ist die Tür schon zugesperrt? Ist der Papa schon daheim? Ist mir meine Freundin morgen wieder gut? Werden mich die großen Buben in der Bauecke spielen lassen?
Solche Gedanken können sich gerade am Abend breit machen und die kindliche Seele belasten. oder es ist ganz einfach die Angst vor der Dunkelheit. Wie gut tut da eine solche Melodie.

Wiegenlieder CD, Vol. 1 Abends wenn ich schlafen geh...

Ein religiöses Abendlied ist zugleich ein Abendgebet. Es vermittelt Kindern ein tiefes Gefühl der Geborgenheit und Sicherheit, wenn ihnen Gottes Schutz und Segen zugesprochen oder die Begleitung der Engel versprochen wird. Unsere zwei kleinen Feriengäste Korbinian und Amelie, die manchmal in den Ferien bei uns im Pfarrhaus sind, wünschen sich fast jeden Abend dieses Lied, wollen dabei die Hände auf Kopf, Füße, Hände und Bauch gelegt bekommen, die Decke muss noch einmal gelupft werden und schön über sie gebreitet werden, bevor das Licht ausgemacht wird und es zum Schlafen geht.

Es ist direkt zu spüren, wie solche Rituale eine Hilfe sind, Abschied vom Tag zu nehmen und den Übergang in die Nacht zu schaffen. Kinder erzählen dabei gern noch einmal vom Tag, reden sich auch manches von der Seele, was sie belastet oder was sie verbockt haben. So manches Abendlied wendet bewusst noch einmal den Blick auf andere Menschen, auf den kranken Nachbarn, auf kranke Herzen und nasse Augen und nimmt sie und alle Menschen, die mir lieb sind, noch einmal ins Gebet. Noch einmal ein Blick über mich hinaus und andere Menschen in die Obhut Gottes stellen - eine solche Übung kann Menschen in Fleisch und Blut übergehen.

Wiegenlieder CD, Vol. 1, Nr. 12 Müde bin ich geh zur Ruh...

Nach nichts sehnen sich Menschen an den Weihnachtstagen mehr als nach Geborgenheit, Sicherheit und inneren und äußeren Frieden. Unsere weihnachtlichen Wiegenlieder und die kindlichen Schlaflieder möchten diese Geborgenheit spüren lassen. Und die Taktfrequenz von 60 - 80 Schläge pro Minute ist dem Herzschlag abgeschaut und möchte beruhigend auf die menschliche Psyche wirken.
Kein Wunder, dass diese Wiegenlieder nicht nur Kinderseelen ansprechen, sondern auch uns Erwachsenen bis heute nahegehen.
Weihnachtliche und abendliche „Wiegenlieder sind kleine Stücke des verlorengegangenen Paradieses, kleine Tröstungen mit Gefühl von Nähe für Erwachsene und das Kind in jedem von uns.“ Ich wünsche Ihnen, dass Sie diese Behauptung des Komponisten Arvo Pärt in den kommenden Tagen wieder einmal neu erfühlen und empfinden können.

Weihnachtslieder CD, Vol. 1, Nr. 26 Mariä Wiegenlied (instrumental)

Ein besonderer Segen

Mir kommt es vor, als hätte der Schreiber des uralten Segens aus dem alten Testament beim Formulieren seines Segensspruches auf eine Mutter geschaut, die am Abend zu ihrem kleinen Kind in die Wiege schaut, ihr Gesicht noch einmal dem Kind zuwendet, es bestaunt und mit ruhiger Stimme zu ihm spricht.
Welch ein genialer Segenswunsch: Gott schaut in Güte auf dich, so wie eine Mutter am Abend nochmals in Staunen und Liebe auf ihr Kind schaut:
Der Herr segne und behüte dich.
Der Herr lasse sein Angesicht über dir leuchten und sei dir gnädig.
Der Herr wende sein Angesicht dir zu und schenke dir seinen Frieden.

Verwendete Musik:
Aus: Weihnachtslieder CD-Sammlung Vol. 1, Carus - Nr. 83.009
- Nr. 4: „Vom Himmel hoch, o Englein, kommt!“
- Nr. 26: Mariä Wiegenlied (instrumental)
Aus: Weihnachtslieder CD-Sammlung Vol. 2, Carus - Nr. 83.010
- Nr. 2: Zu Bethlehem geboren...1. Strophe
Aus: Wiegenlieder CD-Sammlung Vol. 1, Carus 83001
- Nr.10: Schlaf mein Kindelein
- Nr. 12: Müde bin ich geh zur Ruh
- Nr. 17: Abends will ich schlafen gehen
Aus: Wiegenlieder CD-Sammlung Vol. 2, Carus 83002
- Nr. 7: Schlaf, Kindlein schlaf

Textnachweis
Aus: der Andere Advent 2012/13 , Franz Hohler, Die Verkündigung, Mittwoch 26.12


Pfarrer Stefan Mai

© Stefan Mai 2001 - 2024
Alle Rechte vorbehalten.
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Pfarrer Stefan Mai.

www.stefanmai.de